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Andrea Lindlohr
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Christof S. •

Frage an Andrea Lindlohr von Christof S. bezüglich Verkehr

Hallo Frau Lindlohr

Vor der Wahl:
Kretschmann 15.11.2010: „Die Bahn muss wissen: Die Zahlungen des Landes sind verfassungswidrig, der Finanzierungsvertrag nichtig. Falls die Grünen nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg Regierungsverantwortung tragen, werden wir die Zahlungen sofort einstellen und bereits gezahlte Beträge zurückverlangen. Mit uns wird es keine Fortsetzung des Verfassungsbruchs geben.“
Nach der Wahl:
Stuttgart 31.08.2011 - Das Land kommt wieder für Stuttgart 21 auf: Die fällige Rate von 50 Millionen Euro für das Bauvorhaben sei unter Vorbehalt gezahlt worden.

wie ist das möglich?

Grüße
C.Salata

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Salata,

vielen Dank für Ihre Frage, die sich ja im Kern um die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Mischfinanzierung bei Stuttgart 21 dreht. Im Rechtsgutachten von Prof. Hans Meyer vom 3. November 2010 haben wir als grüne Landtagsfraktion gute Argumente dafür gefunden, dass die Mischfinanzierung insbesondere bei der Neubaustrecke Wendlingen - Ulm und mit etwas schwächeren Argumenten auch bei Stuttgart 21 insofern dem Grundgesetz widerspricht, als dass es eigentlich nicht zulässig sein darf, dass einzelne bzw. reiche Länder sich Leistungen, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen, „einkaufen“. Dies halte ich demokratie- und finanzpolitisch auch für den richtigen Ansatz. Leider sieht die Praxis des deutschen Föderalismus auch weit über Stuttgart 21 hinaus ganz anders aus.

Bei Stuttgart 21 besteht die Deutsche Bahn AG auf der Einhaltung der Finanzierungsverträge, und so ist deren Verfassungswidrigkeit strittig und müsste zunächst letztinstanzlich geklärt werden. So lange kein Verfassungsgericht eine Verfassungswidrigkeit festgestellt hat, gilt ein Zustand aber grundsätzlich als verfassungsgemäß. Deshalb hat sich die Landesregierung entschlossen, die in den Finanzierungsverträgen vorgesehenen Zahlungen zwischenzeitlich wieder zu leisten, wenn auch unter Vorbehalt.

Es ist mir als Abgeordneter und uns als grüner Landtagsfraktion derzeit nicht möglich, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Mischfinanzierung gerichtlich zu klären. Für die Teile der Landesregierung, die Stuttgart 21 ablehnen, gibt es nur sehr beschränkte Möglichkeiten, die Nichtigkeit der Finanzierungsverträge selbst gerichtlich geltend zu machen. Weil diese Nichtigkeit auf einen Verstoß gegen das Grundgesetz zurückgeführt wird, kommt ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof Baden-Württemberg nicht in Betracht. Schließlich können hier nur Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit mit der Landesverfassung gerügt werden. Eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts dagegen erscheint im Ergebnis wenig erfolgversprechend: Ein verfassungsrechtlicher Bund-Länder-Streit nach Artikel 93 Absatz 1 Nr. 4 Grundgesetz scheidet aus, weil keine Rechte und Pflichten aus einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis, sondern allein aus einem öffentlichen-rechtlichen Vertragsverhältnis streitig sind. Bei der Beantwortung der Frage, ob das Land zu keiner weiteren Finanzierung von Stuttgart 21 verpflichtet werden und bereits Geleistetes zurückfordern kann, geht es primär um eine einfachgesetzliche Streitigkeit, die lediglich unter Beachtung von Verfassungsrecht zu beurteilen ist. Die Aussichten, das ausschließlich in Betracht kommende nichtverfassungsrechtliche Bund-Länder-Streitverfahren nach Artikel 93 Absatz 1 Nr. 4 Grundgesetz zu gewinnen, sind wohl nicht so gut.

Hinzu kommt, dass das Land ein solches Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, aber auch eine verwaltungsgerichtliche Leistungs- oder Feststellungsklage erst nach Fassung eines entsprechenden Kabinettsbeschlusses erheben könnte. Ein Kabinettsbeschluss zur Anrufung eines Gerichts werden wir aus politischen Gründen nicht herbeiführen können, weil innerhalb der Landesregierung und der sie tragenden Koalitionsparteien zu Stuttgart 21 entgegengesetzte Positionen vertreten werden. Die heftig umstrittene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit der Finanzierungsverträge kann so also nicht letztinstanzlich gerichtlich geklärt werden. Daran kann ich als Mitglied der grünen Landtagsfraktion nichts ändern, weil die Fraktion in einem nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht parteifähig wäre. Denn niemand behauptet, auch nicht Prof. Meyer, dass unsere Rechte als Abgeordnete verletzt sein könnten. Dies gilt auch für die verwaltungsrechtlichen Klagearten, weil Fraktion GRÜNE im Landtag nicht Vertragspartner der Finanzierungsverträge ist. Antragsbefugt wäre allein die Landesregierung durch einen entsprechenden Kabinettsbeschuss.

Weil die Deutsche Bahn AG weiterhin an der Realisierung von Stuttgart 21 festhält, hat die Landesregierung nun das Kündigungsgesetz zu Stuttgart 21 in den Landtag eingebracht. Sollte der Landtag das Kündigungsgesetz ablehnen, wird es eine Volksabstimmung nach Artikel 60 der Landesverfassung geben, in der das Volk über die finanzielle Beteiligung des Landes an dem Projekt Stuttgart 21 abstimmen kann. Ziel der Volksabstimmung ist es, zu einem abschließenden Urteil über Stuttgart 21 zu gelangen. Der Souverän hat bei der Volksabstimmung das letzte Wort. Diesen Willen wird die neue Landesregierung - ganz unabhängig von ihrem Ausgang - respektieren. Sobald auf diesem Wege politische Klarheit hergestellt wurde, lassen sich auch die rechtlichen Mittel zur Durchsetzung des Volkswillens besser ausschöpfen.

Als Landtagsfraktion setzen wir uns natürlich auch jetzt schon dafür ein, politischen Druck für einen Ausstieg des Landes aus den Finanzierungsverträgen zu erzeugen. Einen Auszug aus unseren aktuellen parlamentarischen Initiativen zum Thema Stuttgart 21 finden Sie hier:
Zum Thema Kostensteigerung: http://www.landtag-bw.de/WP15/Drucksachen/0000/15_0272_d.pdf
Zum Thema Sicherheit bei Stuttgart 21: http://www.landtag-bw.de/WP15/drucksachen/Txt/15_0289.pdf
Zum Thema Magistrale: http://www.landtag-bw.de/WP15/Drucksachen/0000/15_0365_d.pdf
Zum Thema Auswirkung Regionalverkehr im südlichen Württemberg: http://www.landtag-bw.de/WP15/Drucksachen/0000/15_0299_d.pdf

Mit freundlichen Grüßen,

Andrea Lindlohr MdL

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