Sprechen Sie sich für oder gegen die Vollstreckung des IStGh Haftbefehls gegen Netanjahu aus?

Sehr geehrte Frau M.,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Ich bitte um Verständnis, dass ich Ihnen aufgrund der Situation im Nahen Osten etwas ausführlicher antworte und zunächst etwas grundsätzlicher antworte, um meine Antwort im Kontext darzustellen:
Die Ereignisse in Israel und im Gaza-Streifen seit dem 07. Oktober 2023 haben auf beiden Seiten des Konflikts traumatische Dimensionen und werden eine Zäsur im politischen Nahen Osten darstellen.
Wir Grünen stehen angesichts des menschenverachtenden Angriffs der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober solidarisch und entschlossen an der Seite Israels und seiner Menschen. Das Land hat ein Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen, den das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorsieht. Deshalb ist jedoch Kritik an der Kriegsführung auch möglich und nötig, was übrigens auch in Israel selbst vehement debattiert wird. Gleichzeitig ist für uns Deutsche das Existenzrecht Israels als Staat durch nichts zu relativieren.
Zugleich steht die Grüne Bundestagsfraktion fest zu Menschenrechten, zum humanitären Völkerrecht und den darin festgeschriebenen humanitären Prinzipien. Danach sind die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur, v. a. Krankenhäuser oder Schulen, unter allen Umständen zu schützen. Das gilt auch für die israelische Seite. Viel zu viele unschuldige Menschen sind beim Gegenschlag Israels im Gaza-Streifen gestorben oder schwer verwundet worden. Gleichsam verstoßen der Angriff auf unschuldige Zivilisten in Israel sowie der Missbrauch von Zivilisten als Schutzschilde im Gaza-Streifen durch die Hamas und die Nutzung ziviler oder medizinischer Einrichtungen als militärische Infrastruktur ebenfalls gegen alle Regeln des humanitären Völkerrechts.
Die humanitäre Lage der in Gaza leidenden und festsitzenden Zivilbevölkerung ist durch die Kriegsführung Israels unter der Regierung Netanjahus immer katastrophaler geworden. Für uns steht außer Frage, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, damit die Menschen vor Ort schnellstmöglich sicheren Zugang zu dringend notwendiger humanitärer Hilfe – Lebensmittel, Wasser, medizinische Versorgung – erhalten.
Gleichzeitig haben wir seit Beginn des Konflikts humanitäre Waffenruhen gefordert, in der Hoffnung, dass sie letztendlich auf einen verhandelten Waffenstillstand und langfristig in eine politische Lösung münden. Wenn Sie unsere Pressestatements in den vergangenen Monaten verfolgt haben, werden Sie feststellen, dass wir mit scharfen Worten die Politik der radikal rechtsgerichteten Regierung unter Benjamin Netanjahu kritisiert haben.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist als unabhängige Institution berufen, zu prüfen, ob schwerwiegende Verstöße vorliegen. Der IStGH ergänzt nationale Strafgerichtsbarkeit und ersetzt sie nicht. Die Aufklärung durch den IStGH braucht Zeit, aufgrund der Schwere der Anschuldigungen, aber auch aufgrund des anhaltenden Konflikts. Die israelische Justiz hat in diesem Zusammenhang erklärt, mit dem IStGH und seinem Ankläger kooperieren zu wollen. Dieser Möglichkeit sollte eine Chance gegeben werden.
Niemand steht über dem Gesetz - das Völkerrecht gilt für alle. Für uns Grüne ist deshalb entscheidend, dass Deutschland die Unabhängigkeit internationaler Gerichte achtet. Nur so kann das Völkerrecht geachtet werden. Deutschland darf gerade jetzt nicht zu einer Erosion dieser lang erarbeiteten Prinzipien und multilateralen Institutionen beitragen, erst recht nicht in einer Zeit, wo diese besonders gefährdet sind. Das ist nicht nur eine Frage der nationalen Glaubwürdigkeit, sondern auch der internationalen Gerechtigkeit und am Ende ein Faktor von Verlässlichkeit und langfristiger Stabilität weltweit, auf die wir alle angewiesen sind.
Mit freundlichen Grüßen
Katrin Uhlig