Bei der Bundestagswahl 2021 war das sanktionsfreie Bürgergeld ihr persönliches Leitthema im Wahlkampf. Werden Sie dem Koalitionsplan, dies abzuwickeln, zustimmen?
Werden Sie sich mit der Linken gegen diesen Angriff auf den Sozialstaat stellen?
Sehr geehrter Herr D.,
vielen Dank für Ihre Nachricht zu diesem sehr weitreichenden Thema. Hierauf würde ich gerne ein obergeordnetes Bild zeichnen, um die Reformvorschläge in der Gesamtheit einordnen zu können.
Die Abschaffung von Hartz-IV war seit Beginn meines politischen Arbeitens eines meiner zentralen Anliegen. Die Agenda 2010 war ein Schritt in die falsche Richtung und hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt enorm beeinträchtigt. Auch die vermeintlich positive Wirkung mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung oder die Reduktion der Zahl der arbeitssuchenden Menschen sehe ich so als nicht gegeben. So resultierte die positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung insbesondere aus einer erhöhten Nachfrage aus dem Ausland. Dafür waren jedoch nicht gesunkene Lohnkosten verantwortlich, sondern die hohe Qualität der entsprechenden Güter. Gleichzeitig entstand in der Bundesrepublik der größte Niedriglohnsektor innerhalb der EU, wodurch viele Beschäftigte trotz einer Vollzeitarbeit mit finanziellen Problemen zu kämpfen haben.
Mit der Bürgergeld-Reform konnten wir einen Schritt in die richtige Richtung gehen und das Hartz-IV-System hinter uns lassen. Wir haben mit dem Bürgergeld ein System geschaffen, dass die Menschen dabei unterstützt, wieder nachhaltig in Arbeit zu kommen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sind Ausbildung und Qualifizierung wichtiger denn je. Hierbei soll mit positiven Anreizen ein individueller Plan zur Reintegration in den Arbeitsmarkt geschaffen werden, wofür insbesondere Aus- und Weiterbildungen stärker genutzt werden sollen. Leider konnte das Bürgergeldgesetz das volle Potenzial bisher nicht ausschöpfen, da unter anderem die Finanzierung der Jobcenter nicht im nötigen Umfang sichergestellt werden konnte und es erfahrungsgemäß dauern kann, bis sich die Wirkung einer so großen Reform entfaltet.
Vielmehr entstand schon während der Verhandlungen zum Gesetz, das mit Zustimmung der Union im Bundesrat im Herbst 2022 beschlossen wurde, eine Debatte, die von Diffamierungen und Falschbehauptungen geprägt war. Hierdurch entstanden viel Unsicherheit und ein gesellschaftliches Klima des „Nach-unten-Treten“. Wir als SPD, aber auch generell die gesellschaftliche Linke haben es nicht geschafft, in der Debatte dagegen anzukommen. Denn wenn man auf das Wahlergebnis sowie aktuelle Umfragen schaut, gibt es eine parlamentarische sowie gesellschaftliche Mehrheit für Verschärfungen in der Grundsicherung.
Im zeitnah anstehenden parlamentarischen Verfahren wird es nun konkret darum gehen, die Sachfragen und die konkrete Ausgestaltung, z.B. hinsichtlich der Sanktionen, zu klären. So setzt das Bundesverfassungsgericht deutliche Grenzen, wenn es um die Kürzung des Existenzminimums der Betroffenen geht. Daher werden wir als SPD in der genauen Ausgestaltung darauf achten, dass der vollständige Leistungsentzug nur mit hohen Hürden umsetzbar ist. Beispielhaft soll es hierbei um Ausnahmefälle gehen, in welchen die betroffenen Personen gar nicht am angegebenen Wohnort leben. In jedem Fall sollen jedoch bei Terminversäumnissen im Rahmen einer aufsuchenden Sozialarbeit der Einzelfall geprüft werden, wieso eine Person nicht zu einem Termin erscheint und wie die allgemeinen Lebensumstände einer Person aktuell aussehen. Insgesamt werden von diesen Leistungskürzungen, wie bisher, nur ein Bruchteil der Leistungsbezieher:innen betroffen sein. Wir werden als SPD darauf hinwirken, dass gesundheitlich eingeschränkte oder Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei besonders geschützt werden und entsprechende Hilfsangebote erhalten.
Ein weiterer Aspekt, den man positiv hervorheben kann, ist der Erhalt des sogenannten Kooperationsplans. Dieser ist eine ganz wichtige Errungenschaft aus der Bürgergeldreform in der letzten Legislatur und für uns ein zentrales Element. Denn mit dem Kooperationsplan beginnt die Zusammenarbeit zwischen Leistungsbeziehenden und dem Jobcenter auf Augenhöhe. Dort wird schriftlich ein gemeinsamer Weg festgehalten, der unter Berücksichtigung individueller Bedarfe und Qualifikationen die Menschen nachhaltig zurück in Arbeit bringen soll.
Des Weiteren werden wir die Jobcenter im nächsten Jahr erneut mit einer Milliarde Euro zusätzlich ausstatten, sodass diese den Beratungskontakt zu den Leistungsbezieher:innen intensivieren können. Wir haben mit diesem Ansatz bereits positive Erfahrungen beim Jobturbo für ukrainische Geflüchtete gemacht, durch welchen mehr Menschen den Weg in Arbeit finden konnten. Daher wollen wir diesen Weg weitergehen und insbesondere langzeitarbeitslosen Menschen wieder Brücken zu mehr Teilhabe bauen.
Aber auch generell bleibt die Qualifizierung ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der Jobcenter. Zwar wollte die Union eine vollständige Rückkehr des Vermittlungsvorranges, wie dieser im Hartz-IV-System bestand. Jedoch werden die Jobcenter einen Fokus auf Qualifizierungen legen, wenn diese erfolgsversprechender ist als eine Vermittlung in eine ungelernte Tätigkeit, die meist schnell wieder in der Arbeitslosigkeit endet. Für Menschen unter 30 Jahren setzen wir verstärkt auf Qualifizierung, insbesondere dann, wenn sie bisher keinen Abschluss haben. Uns ist insgesamt wichtig, dass in Tätigkeiten vermittelt wird, die im Kooperationsplan gemeinsam vereinbart worden sind.
Nichtsdestotrotz ist mir bewusst, dass die aktuelle Diskussion wieder neue Unsicherheiten schürt. Zudem will ich betonen, dass für uns als SPD dieser Koalitionsbeschluss einen schmerzhaften Kompromiss darstellt. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass in unserer Gesellschaft viele Ungerechtigkeiten bestehen. So gibt es viele Menschen, die am Ende jedes Monats finanziell zu kämpfen haben. Deshalb haben wir uns als SPD für verschiedene Maßnahmen stark gemacht, um den Großteil der Gesellschaft zu entlasten und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Hierzu gehören z.B. ein armutsfester Mindestlohn, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen über das Tariftreuegesetz, die Stabilisierung des Rentenniveaus, die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen bei der Kranken- und Pflegeversicherung oder auch die Kindergrundsicherung und die bessere Unterstützung von Alleinerziehenden. Dabei konnten und können wir nicht alle dieser eigentlich notwendigen Maßnahmen umsetzen, da uns an einigen Stellen entweder durch die FDP oder die Union die parlamentarische Mehrheit fehlt.
Dennoch bleibt klar, dass für die Schaffung einer gerechten Gesellschaft vordergründig die enorme Vermögensungleichheit angegangen werden muss. Hierfür machen wir uns für eine Wiedereinführung einer Vermögenssteuer sowie einer Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer stark. Insgesamt müssen für die Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft hohe Vermögen bei der Finanzierung wieder stärker in die Verantwortung genommen werden.
Die Reform des Bürgergeldes in die neue Grundsicherung ist ein schmerzhafter Kompromiss dieser Koalition. Aber uns allen in der Gesellschaft muss klar sein: für eine gerechte Gesellschaft braucht es deutlich größere Antworten.
Abschließend möchte ich mich nochmal für Ihre Nachricht bedanken. Mir liegt der Austausch mit Bürger:innen sehr am Herzen und ich betrachte diesen als Bereicherung für meine parlamentarische Arbeit.
Mit freundlichen Grüßen
Annika Klose

