Wo stehen Sie im Fall Brosius-Gersdorf?
Sehr geehrter Herr Kießling,
mit Erschütterung verfolge ich die Diskussionen um Frau Brosius-Gersdorf. Für mich steht Frau
Brosius-Gersdorf Grundrechte und Verfassungsintegrität. Ich erwarte von unseren Abgeordneten, dass sie weitsichtige Entscheidungen treffen, die unser Land und unsere Demokratie langfristig stärken. Medien können von Einzelinteressen gesteuert sein.
Haben Sie das Rückgrat, um für unsere Demokratie einzustehen? Werden Sie für Frau Brosius-Gersdorf stimmen? Das wäre mir ein großes Anliegen.
Vielen Dank und beste Grüße
Anja v. K.

Sehr geehrte Frau von K.,
vielen Dank für Ihre Zuschriften zur Debatte über die Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht.
Inzwischen hat Frau Prof. Dr. Brosius-Gersdorf bekanntgegeben, auf eine Kandidatur zu verzichten. Damit endet vorerst ein sehr brisanter Abschnitt unseres parlamentarischen und demokratischen Miteinanders – ein Punkt, den auch Sie in Ihren Nachrichten ansprechen.
Wie fast alle Unionsabgeordneten erhielt auch ich unmittelbar vor der ursprünglich geplanten Richterwahl eine außergewöhnlich hohe Zahl an Zuschriften – sowohl aus meinem Wahlkreis als auch darüber hinaus. Die überwiegende Mehrheit äußerte darin deutliche Kritik an den Positionen der Kandidatin Brosius-Gersdorf. Meine Antwort darauf war Ausdruck einer persönlichen Grundlinie, die ich seit jeher vertrete und zu der ich auch weiterhin stehe.
Kern dieser Grundlinie ist die konsequente, unserem christlich-abendländischen Werteverständnis entspringende Wertschätzung des Lebensschutzes – umfassend sowohl für das ungeborene Leben als auch für das Leben der betroffenen Mütter. Auch in meiner damaligen Antwort auf die Zuschriften habe ich betont, wie wichtig es ist, diese beiden Punkte auf keinen Fall gegeneinander auszuspielen.
Dies erfordert einerseits Sachlichkeit in der inhaltlichen Auseinandersetzung und andererseits Respekt im persönlichen Umgang. Man kann nicht glaubhaft für die Menschenwürde eintreten, wenn man zugleich einen unwürdigen Umgang mit politischen Gegnern pflegt. Hier hat sich insbesondere die AfD einmal mehr selbst entlarvt. Aber auch viele Akteure außerhalb des Parlaments haben sich als wenig glaubwürdige Teilnehmer der zugrunde liegenden rechtlichen Debatte erwiesen.
So sehr ich den Rückzug von Frau Prof. Dr Brosius-Gersdorf in der Sache begrüße, so kritisch sehe ich die Umstände, unter denen er erfolgte. Von einem rein freiwilligen Verzicht kann hier kaum die Rede sein. Ihre Erklärung, unter anderem auf Legal Tribune Online nachzulesen, respektiere ich. Dies gilt insbesondere für ihren bewussten Verzicht auf persönliche Angriffe, von denen sie selbst zuletzt eine Vielzahl ertragen musste. Sie hat recht darin, dass wir solche Zustände in unserer Demokratie nicht folgenlos bleiben lassen dürfen.
In einem Punkt bleibe ich jedoch entschieden anderer Meinung: bei ihrer Haltung zur Menschenwürde des ungeborenen Lebens. Dass es nach der juristischen Lehre in Deutschland tatsächlich zu Problemen käme, wenn man die Menschenwürde aus Art. 1 GG in Ausnahmefällen eben doch einschränken – „antasten“ – könnte, ist korrekt. Der grundlegende Fehler liegt jedoch darin, die Schutzbereiche von Lebensschutz und Menschenwürde gleichzusetzen. Wir haben nicht umsonst zwei verschiedene Grundrechte für beide Rechtsgüter. Auch an anderen Stellen unserer Rechtsordnung wird eine differenzierte Betrachtung vorgenommen – mit gutem Grund und Erfolg.
Unsere erheblichen inhaltlichen Differenzen mit den Positionen von Frau Prof. Brosius-Gersdorf bestehen daher dauerhaft. Ihre Wahl hätten wir guten Gewissens nicht mittragen können. Dass wir uns vor diesem Hintergrund bereits weit im Vorfeld grundlegend andere Entscheidungen innerhalb des Wahlausschusses des Bundestages gewünscht hätten, ist kein Geheimnis.
Klar ist auch: Mit ihrem Rücktritt ist die Debatte keineswegs beendet. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass Union und SPD in den kommenden Wochen gemeinsam einen Kandidatenvorschlag erarbeiten werden, der im Parlament mehrheitsfähig sein wird.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Kießling