Wird die SPD die Koalition mit der CDU beenden? Warum lässt sich die SPD so stark von der CDU erpressen? Ist es der SPD bewusst, dass es um das Überleben der Partei/Demokratie geht?
Sehr geehrter Herr Lindh,
die CDU zeigt sich immer mehr wie unverantwortlich und unverlässlich sie sind. Die Situation um den Maskenskandal um Herr Spahn, wo ein U-Ausschuss kommen muss, viele Gesetze, die eigentlich nicht ins SPD Programm passt zum Beispiel Familiennachzug oder Bürgergeld. Die SPD muss entweder Herr der Lage werden oder die Koalition sofort verlassen. Die Koalition ist aktuell sehr einseitig. Die CDU ist zum Beispiel komplett auf die Hetzkampagne gegen Gersdorf eingegangen. Dasselbe geschieht bei Kaufhold! Der Rückzug von Gersdorf ist fatal für unsere Demokratie und lässt den rechtsextremen Medien Angrifffläche zu. Die CDU nimmt dies so an. Das ist unverantwortlich und daher soll die SPD besser überlegen die Koalition zu verlassen.
Viele sind von der SPD enttäuscht, weil keine soziale Elemente hineinbekommen. Die SPD sinkt in den Umfragen weiter und die AfD ist jetzt stärkste Kraft!!! Das Ende der SPD und der Demokratie naht, wenn nicht getan wird.

Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für Ihre Frage.
Ich teile Ihre Kritik am Umgang mit Frau Prof. Brosius-Gersdorf. Wir mussten miterleben, wie eine herausragend qualifizierte Juristin Ziel einer beispiellosen Kampagne wurde. Frau Professorin Brosius-Gersdorf verfügt über eine exzellente fachliche Qualifikation und eine beeindruckende Laufbahn. Ich stimme Ihnen zu, dass ihr Rückzug von der Kandidatur ein alarmierendes Zeichen für die Art der Zusammenarbeit innerhalb der Koalition ist. Ich stimme Ihnen auch zu, dass es deshalb Klärungsbedarf mit der Union gibt. Wir können nicht zulassen, dass die Besetzung höchster juristischer Ämter in Deutschland maßgeblich durch rechtsextreme Kräfte, rechtspopulistische Medien und ausländische Akteure beeinflusst wird. Eine Koalition lebt von Kompromissen und Verbindlichkeit. Die Union hat hier Zusagen gebrochen, während die SPD – wie Sie ebenfalls schreiben – sehr schmerzhafte Zugeständnisse, insbesondere in der Migrations- und Asylpolitik, gemacht hat.
Die Aussetzung des Familiennachzugs habe ich vor dem Hintergrund eines solchen Kompromisses mitgetragen. Dass nun ein großer Teil der Geflüchteten für zwei Jahre ganz von der Möglichkeit der Zusammenführung ausgeschlossen wird, schmerzt mich persönlich sehr. Die Aussetzung des Familiennachzugs geht aber auch mit Ausnahmen in Härtefällen einher. Wir als SPD-Fraktion konnten uns erfolgreich dafür einsetzen, dass die entsprechenden Verfahren für die Betroffenen klarer und leichter werden. Zudem konnten wir erreichen, dass bereits ausgestellte Visa von den Antragsstellern abgeholt werden dürfen und die Einreise für diese Menschen ermöglicht wird. Das sind kleine Verbesserungen. Aus meiner Heimat Wuppertal weiß ich aber selbstverständlich, wie viele Menschen jahrelang Hoffnungen in die Möglichkeit des Familiennachzugs gesetzt haben und wie schmerzhaft die Aussetzung nun für sie ist. In meinem Büro bearbeite ich seit Jahren extrem viele Migrationsfälle, dabei habe ich auch eine Fülle von Schicksalen mit Familiennachzug erlebt und zu helfen versucht, oft auch erfolgreich nach sehr langwierigen Bemühungen. Die Last, die das Warten auf Familienzusammenführung erzeugt, ist mir allzu vertraut. Ich erinnere mich noch genau, wie ich meine erste Bundestagsrede genau zu dem Thema Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter gehalten hatte und darin von einer dieser Erfahrungen berichtete.
Wir dürfen aber auch nicht den Blick dafür verlieren, was die SPD in dieser Koalition umsetzen konnte: Nur auf unserem Druck wurde endlich ein Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro eingesetzt. Das ist dringend notwendig, auch wenn die Union sich jahrelang und bis zuletzt dagegen gewehrt hat. Kommunen wie Wuppertal leiden seit Jahrzehnten unter einem dramatischen Investitionsstau. Eine zentrale Forderung war dabei immer Entlastung von Seiten des Bundes und Hilfe für die Infrastruktur. Die Möglichkeit eines gewaltigen Infrastrukturprogramms wurde immer mit großen Fragezeichen versehen, nun ist es gegen vieler Erwartung Realität geworden, auch wenn dies momentan in Debatten kaum eine Rolle spielt. Kitas, Schulen, Verkehrswege, Sanierung von Kultureinrichtungen, Ertüchtigung für Klimaschutz sind ganz praktisch für überschuldete Kommunen eine lebenswichtige Frage und betreffen die Lebensqualität ganz unmittelbar. Insofern ist diese Entscheidung tatsächlich ein historischer Durchbruch. Außerdem: Der Mindestlohn wird substanziell steigen, wir haben ein Tariftreuegesetz auf Bundesebene auf den Weg gebracht und einen Investitionsbooster für Unternehmen beschlossen. Das alles stärkt den Arbeitsmarkt und gute, tarifbezahlte Beschäftigung. Gleichzeitig werden wir mit dem Rentenpaket dafür sorgen, dass sich die Menschen auf die Altersvorsorge weiterhin verlassen können. All das sind Kernanliegen der SPD, die ohne uns nicht kommen würden.
Wir stehen ganz praktisch vor dem Dilemma, dass unsere Demokratie gefährdet ist wie seit Bestehen der Bundesrepublik nicht mehr. Wir haben eine Verantwortung der Mitte für Stabilität. Die Stärke der AfD und das Damoklesschwert von Neuwahlen dürfen aber gleichzeitig nicht dazu führen, dass die Union in dieser Konstellation ihre Interessen durchsetzt, und die SPD allein aus „staatspolitischer Verantwortung“ eine einseitige Politik mitträgt.
Sehr geehrter Herr S., diese Koalition steht vor keinen einfachen Aufgaben und wird kein Selbstläufer. Es überwiegt die Hoffnung, dass die Union künftig verlässlicher agiert und Absprachen wieder Bestand haben. Dann können wir – trotz inhaltlicher Differenzen – viel bewegen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Helge Lindh, MdB