Warum stützt die Bundesregierung sich auf die unterste Strombedarfsprognose (ca. 600 TWh bis 2030), wie Ministerin Reiche selbst sagte, und schwächt damit Bürgerenergie und Netzausbau?
Sehr geehrter Herr Henning,
Ministerin Katherina Reiche erklärte, sie halte die untere Prognose von ca. 600 TWh Stromverbrauch bis 2030 für realistisch. Offizielle Szenarien reichen jedoch von 520 bis 900 TWh (2030) und 640 bis 1100 TWh (2035). Wird nur der Minimalwert genutzt, drohen Engpässe, hohe Redispatch-Kosten (heute schon 3–4 Mrd. €/Jahr) und längere Abhängigkeit von fossilen Kraftwerken.
Zugleich werden Bürgerenergieprojekte nicht konsequent gestärkt, obwohl sie für Akzeptanz, regionale Wertschöpfung und Unabhängigkeit entscheidend sind.
Meine Frage: Wie stellen Sie sicher, dass (1) der Strombedarf im Netzentwicklungsplan realistisch, nicht nur am unteren Rand, angesetzt wird und (2) Bürgerenergieprojekte aktiv gefördert werden?
Quellen: BNetzA Versorgungssicherheitsmonitoring 2025; BMWK/BNetzA Versorgungssicherheitsbericht Strom 2023; BMWK Bürgerenergie (energiewechsel.de).
Mit freundlichen Grüßen
Guido M.
Sehr geehrter Herr M.,
herzlichen Dank für Ihre Anfrage, die allerdings weniger die Landes- als vielmehr die Bundesebene betrifft. Ich habe mich zu dem Thema daher bei der SPD-Bundestagsfraktion für Sie erkundigt.
Der genaue Strombedarf ist nicht exakt vorherbestimmbar, da er von verschiedenen Faktoren abhängt. Verstärkte Strombedarfe stehen etwa in Zusammenhang mit Wasserstoffgewinnung, Rechenzentren und Künstlicher Intelligenz. Je nachdem, wie sich diese Bereiche entwickeln, muss mit einem noch über die Prognosen hinausgehenden Strombedarf gerechnet werden. So geht auch der Energiewende-Monitoring-Bericht, den Katherina Reiche in Auftrag gegeben hatte und kürzlich vorstellte, von einer Spanne aus; hier werden 600-700 TWh bis 2030 genannt, allerdings unter Annahme von unterstellter Deindustrialisierung. Die bisherigen 2030-Ziele belaufen sich auf 750 TWh. Wenn nun einer Deindustrialisierung entgegen gesteuert werden soll, wie sich die Koalition dies auch vorgenommen hat, und etwa klimaschützende Zukunftstechnologien, darunter Wärmepumpen, Elektrolyseure und Elektromobilität, hochlaufen, sollten wir das Ziel von 750 TWh nicht in Frage stellen, zumal für die Zeit nach 2030 ohnehin von steigenden Bedarfen ausgegangen wird. Auch für das heute geltende 2030-Ziel von „mindestens 80 %“ Erneuerbaren Energien darf es nun zu keinen Restriktionen kommen, um Investitionshemmnisse zu vermeiden.
Selbst wenn es beim benannten Hochlauf zu Verzögerungen kommen sollte, wäre es verfehlt, diese Verzögerungen heute zu unterstellen, da sich dies auch wettbewerblich hemmend auf dringend benötigte Investitionen auswirken könnte. Der verstärkte Ausbau Erneuerbarer Energien wird Anreize für Speicher, Wasserstoffhochlauf, Wärmepumpen und Elektromobilität sowie die dazugehörigen Infrastrukturmaßnahmen setzen und lässt damit marktliche Mechanismen zugunsten politischer Zielsetzungen wirken. Ein späteres Nachsteuern im Falle von Zielverfehlungen wäre in seiner Korrektur hingegen deutlich aufwändiger sowie unsicherer.
Nach jüngeren Untersuchungen können sich die Redispatch-Maßnahmen überwinden lassen, wenn auch der systemische Umstieg auf Erneuerbare Energien gelingt; wenn ausreichend Speicher und Flexibilitäten netzentlastend ins System kommen, die Netze effizienter ausgelastet und bedarfsgerecht ausgebaut werden. In Bezug auf die Netzentgelte hat die Koalition auf Bundesebene durch Zuschüsse zunächst eine Senkung von Netzentgelten ermöglicht, die 2026 bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommen wird. Perspektivisch kann der steigende Netzausbau und Netzumbau allerdings auch zu wieder steigenden Netzentgelten führen, wenn nicht weitere Entlastungen folgen. Hierfür gilt es Lösungen zu entwickeln.
Bezogen auf das Thema Bürgerenergie hat das Land Niedersachsen bereits im April 2024 das „Niedersächsische Gesetz über die Beteiligung von Kommunen und Bevölkerung am wirtschaftlichen Überschuss von Windenergie- und Photovoltaikanlagen“ verabschiedet. Damit profitieren die Kommunen und die Menschen vor Ort – vor allem im ländlichen Raum – von jedem neuen Windrad und jeder neuen Freiflächen-PV-Anlage direkt. Denn mit dem Gesetz werden die Anlagenbetreiber erstmals verpflichtet, für jedes neue Windrad oder Freiflächenphotovoltaikanlage eine Akzeptanzabgabe von 0,2 Cent pro Kilowattstunde an die jeweilige Gemeinde zu zahlen. Das sind rund 30.000 Euro pro Jahr für jedes neue Windrad und zwar dauerhaft, solange die Anlage sauberen, klimaneutralen Strom produziert. Außerdem gibt es eine Reihe an Förderprogrammen, beispielsweise für die energetische Sanierung von Gebäuden, für den Austausch oder die Optimierung der Heizungsanlage oder für PV-Anlagen.
Viele Grüße
Frank Henning

