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Anette Kramme
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Frage von Marco B. •

Frage an Anette Kramme von Marco B. bezüglich Wirtschaft

Welche Freiheiten bzgl. der Festlegung eines etwaigen Mindestlohns lassen die Bestimmungen des Einheitsvertrages zwischen der BRD und DDR von 1990?

Genauer heißt es im Vertrag über die Schaffung einer Währungs, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
(http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/wwsuvtr/gesamt.pdf):

"Kapitel I Grundlagen
Art 4 Rechtsanpassung
(1) Für die mit der Errichtung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion erforderliche Rechtsanpassung in der Deutschen Demokratischen Republik gelten die in Artikel 2 Absatz 1 niedergelegten Grundsätze und die im Gemeinsamen Protokoll vereinbarten Leitsätze; fortbestehendes Recht ist gemäß diesen Grund- und Leitsätzen auszulegen und anzuwenden."

Im "Gemeinsame[n] Protokoll über Leitsätze" findet sich gleich am Anfang, bei "A. Generelle Leitsätze", unter "I. Allgemeines" der Unterpunkt "III. Sozialunion" folgender Punkt:

"3. Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen werden nicht vom Staat, sondern durch
freie Vereinbarungen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Arbeitgebern
festgelegt."

In wieweit stellt ein (branchen)einheitlicher Mindestlohn einen unzulässigen staatlichen Eingriff in die Lohnfestlegung dar, weil der Möglichkeitenraum für "freie Vereinbarungen" eingeschränkt wird? Würde, bei Einführung eines allgemeinen Mindestlohnes, die automatische Erhöhung bzw. der Zwang zu Lohnneuverhandlungen mit neu geltender Lohnuntergrenze, nicht für die betroffene Gruppe die Lohnhöhe dann vom Staat festgelegt werden?

Mir ist bewußt, dass der Staat den Rechtsrahmen schafft, in welchem privatautonom Verträge abgeschlossen werden können. Kernpunkt meiner Frage ist, ob man den Einigungsvertrag so lesen kann, dass der Staat generell keine Gesetzte erlassen darf, welche Löhne und Arbeitsbedingungen festlegen. Die Frage gilt, in abgeschwächter Form, auch für die Erklärung von branchenspezifischen Mindestlöhnen auf Basis von Tarifverträgen.

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Breitig,

herzlichen Dank für Ihre Frage zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung staatlicher Mindestentgeltfestsetzung, die ich wie folgt beantworten möchte:

Aus den Grundrechten des Grundgesetzes ergibt sich eine Schutzpflicht des Staates gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dies ist die grundlegende Rechtsnorm. Die Möglichkeit, aus unabhängiger Erwerbsarbeit ein Existenz sicherndes Einkommen erwerben zu können, muss gesichert sein. Die Funktion eines solchen Mindestentgelts unterscheidet sich jedoch von staatlichen (Sozial)Leistungen. Beim Mindestentgelt geht es um die Gegenleistung für Arbeit in einem privaten Beschäftigungsverhältnis. Das Existenzminimum jenes Teils der Bevölkerung, der abhängig erwerbstätig ist, ist nicht nur am Maßstab der Menschenwürde, sondern auch am Maßstab des Persönlichkeitsrechts und der Berufsfreiheit zu messen. Es muss also auch eine gewisse Äquivalenzfunktion erfüllen. Diese lässt sich mit dem Begriff der „angemessenen“ Arbeitsbedingungen beschreiben.

Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Ziel bereits als legitimes gesetzgeberisches Ziel in der Sozialpolitik anerkannt. Die gesetzgeberische Schutzpflicht des Grundgesetzes hat zur Folge, dass dort, wo der Arbeitsmarkt dies nicht alleine zu gewährleisten vermag, der Staat durch gesetzliche Regelung zum Ausgleich von Ungleichgewicht eingreifen muss. Ein gesetzlicher und auch ein brancheneinheitlicher Mindestlohn sind nach Überzeugung der SPD-Bundestagsfraktion dringend erforderlich, um das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen.

Zu Ihrer Kernfrage, ob entsprechend des Einigungsvertrages der Staat generell keine Gesetze erlassen darf, welche Löhne und Arbeitsbedingungen festlegen oder branchenspezifische Mindestlöhne auf Basis von Tarifverträgen festlegen darf, kann ich wie folgt antworten:

In der deutschen Rechtsordnung ist es grundsätzlich Aufgabe der Tarifparteien, Ungleichgewichte im individuellen Arbeitsverhältnis durch kollektives Handeln auszugleichen und über Tarifverträge Mindestentgelte festzulegen. Diese Aufgabe ist durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt. Der Schutz der Tarifautonomie ist jedoch kein Selbstzweck. Denn die kollektive Organisation und Normsetzung im Bereich der Arbeitsbeziehungen dient nicht nur der Verwirklichung der Vereinigungsfreiheit, sondern über die Vereinigungsfreiheit auch der Verwirklichung von demokratischer Mitwirkung im Erwerbsleben, der Regulierung der Arbeitsverhältnisse und dem Ausgleich von Disparitäten auf den Arbeitsmärkten.

Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher die Regierung auf, insbesondere im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung eine Lohnuntergrenze festzulegen. Dies kann durch die Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und der entsprechenden Verordnungen geschehen. Die bisherige Regelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, die es erlaubt durch tarifliche Regelungen vom „Equal Pay-Grundsatz“ (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) abzuweichen und sie sogar zu unterbieten muss gestrichen werden. Der Gesetzgeber ist zudem aufgrund der sozialen Verwerfungen verpflichtet, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn festzulegen. Ich hoffe, Ihre Fragen damit beantwortet zu haben und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

Anette Kramme, MdB

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