Sind Sie der Auffassung, dass es staatlichen Behörden gestattet sein sollte, eine Art Wahrheitsregime auszuüben und Personen für angebliche oder tatsächliche "Falschaussagen" zu sanktionieren?
Die Eu hat mit ihrem gegen Russland gerichteten letzten Sanktionspaket erstmals auch Sanktionen gegen deutsche Staatsbürger verhängt, die die Grundrechte der Betroffenen auf eine Weise außer Kraft setzen, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Dass es sich bei den betroffenen "Journalisten" - auch nach meinem Urteil - um Kreml-Propagandisten der übelsten Sorte handelt, darf uns nicht davon abhalten, uns mit ihnen zu solidarisieren, wenn uns das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, wenn uns überhaupt Grundrechte noch etwas bedeuten: Wenn es möglich ist, per EU-Verwaltungsakt derartig einschneidende Maßnahmen gegen Einzelpersonen zu verhängen, wenn wir es zulassen, dass Behörden nicht nur darüber befinden, was wahr und falsch ist, sondern sich unter Umgehung grundgesetzlicher Garantien anschicken, Existenzen zu vernichten, geht und das alle an, vollkommen unabhängig davon, welche Haltung wir zum Russland-Ukraine-Konflikt oder irgendeinem anderen politischen Streitfall einnehmen.

Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Es gehört zu den tragenden Prinzipien unseres Rechtsstaats, dass Grundrechte unabhängig von Sympathie oder politischer Haltung zu schützen sind. Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz garantiert die Meinungsfreiheit – gerade auch für kontroverse und unbequeme Äußerungen. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass dieses Grundrecht „für alle, ohne Rücksicht auf Wert, Gehalt oder Gefallen“ gilt. Zugleich setzt Artikel 5 Absatz 2 GG Grenzen: Volksverhetzung, strafbare Aufrufe zu Gewalt oder gezielte und nachweisbare Desinformation zum Zwecke der Destabilisierung fallen nicht unter diesen Schutz. Hier greift das Prinzip der wehrhaften Demokratie.
Ein staatliches „Wahrheitsregime“ ist mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unvereinbar. Es sind nicht Behörden, sondern nur unabhängige Gerichte, die letztlich darüber befinden dürfen, ob eine Aussage rechtlich unzulässig ist oder nicht. Jeder Eingriff in Grundrechte ist nur dann legitim, wenn er verhältnismäßig, überprüfbar und vor Gericht anfechtbar ist – andernfalls wäre die Gewaltenteilung und der Richtervorbehalt ernsthaft gefährdet.
Dabei bleibt klar: (Russische) Propaganda und hybride Kriegsführung stellen eine ernste Gefahr für unsere Gesellschaft und Demokratie dar. Staat, Politik und Gesellschaft müssen sich gezielt wehren – aber eben rechtsstaatlich und mit Augenmaß. Die jüngsten EU-Sanktionen gegen deutsche Staatsbürger basieren auf klar definierten Verfahren und Beweisen. Jeder Betroffene kann vor deutschen und europäischen Gerichten klagen – das ist das Rückgrat funktionierender demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Mit freundlichen Grüßen
Ralf Stegner