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Frage von Henry S. •

Frage an Katja Kipping von Henry S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

ich mache mir Sorgen um die Zukunft in D! In der Asyldebatte vermisse ich Gedanken der Politik zu folgenden Fragen; darauf hätte ich gerne k o n k r e t e Antworten.

(1) Wieviele Flüchtlinge können/wollen wir aufnehmen? Eine quantitative Grenze muss es geben sofern man gesellschaftspolitisch zukunftsorientiert denkt! Ein unbegrenztes Recht auf Asyl kann keine Nation verkraften.
(2) Schaffen wir durch die Aufnahme so vieler Menschen unterschiedlicher ethnischer Abstammung, Religion u. Bildung nicht die Basis für ggf. gewaltsame Auseinandersetzungen in unserem Land? Beispiele findet man weltweit.
(3) Warum werden Asylbewerber unterschiedlicher Nationen nicht ausgewiesen, wenn sie sich in Asylbewerberunterkünften befehden?
(4) Was werden wir in Zukunft mit Menschen machen, die sich nicht integrieren wollen?
(5) Wieso können sich Flüchtlinge ungestraft einer Grenzkontrolle, die der Feststellung der Identität dient, gewaltsam entziehen?
(6) Welche Vorsorge trägt die Regierung, damit keine verkappten Terroristen (IS) eingeschleust werden? Die Wahrscheinlichkeit, dass Islamisten das Chaos ausnutzen werden, ist hoch.
Hier zwei Zitate:
* unter www.mdr.de:
"..Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex hatte bereits Anfang der Woche vor einem regelrechten Fälschermarkt für syrische Pässe in der Türkei gewarnt...."
* Der Sunday Express zu verdeckt eingeschleusten Dschihadisten:
http://www.express.co.uk/news/world/555434/Islamic-State-ISIS-Smuggler-THOUSANDS-Extremists-into-Europe-Refugees
(7) Weshalb wird von Politikern einfach behauptet, dass im Wesentlichen hervorragend ausgebildete Menschen zu uns kommen, obwohl es keine Daten dazu gibt?
(8) Wieso nehmen es deutsche Politiker hin, dass EU-Recht bezüglich der Aussengrenzen gebrochen wird?
(9) Was wollen S i e persönlich tun, um den unkontrollierten Zugang nach D zu stoppen, damit unsere Gesellschaft in Zukunft nicht auseinanderbricht?

Freundliche Grüße von dem besorgten Bürger

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Sandner,

ich möchte Ihre vielen Fragen gern beantworten.

Zu 1.) Es ist das Wesen von individuellen Rechten, dass sie sich nicht mit der Idee einer quantitativen Obergrenze vertragen. Ich versuche die Absurdität der gegenteiligen Ideen einmal an einem Beispiel deutlich zu machen. Seit einigen Jahren steigt (erfreulicherweise) die Zahl der KindergeldbezieherInnen. Folgt man der Idee, dass man ein Recht begrenzt, sobald mehr Menschen es in Anspruch nehmen, wäre es nur logisch, dass man die Zahl der KindergeldbezieherInnen deckelt. Sagen wir mal auf 8 Millionen. Die 826Tausend, die darüber hinaus Kindergeld beantragen: Pech gehabt. Das ist absurd, richtig? Genauso absurd ist der Vorschlag, den Anspruch auf politisches Asyl ab einer bestimmten Zahl von AntragstellerInnen nicht mehr zu prüfen.

Im Übrigen erhält ein nicht geringer Anteil der derzeit ankommenden Flüchtlinge ein zeitlich begrenztes Aufenthaltsrecht nicht direkt aus Art. 16 Abs. 1 GG, sondern auf Grund der Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Es ist möglich, dieses internationale Abkommen aufzukündigen. Ich finde aber, dass, wer Menschenrechtsstandards wie Nordkorea, Libyen und Eritrea haben möchte, die allesamt keine Unterzeichner der GFK sind, der soll dies auch so deutlich sagen.

Zu 2.) Ihre Vorstellung von Konfliktursachen halte ich für sehr oberflächlich. Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen können sehr verschiedene Ursachen haben. Materielle Verteilungskonflikte, Auseinandersetzungen um politische Macht, rassistische oder nationalistische Aufhetzung von Bevölkerungsgruppen etc. Unterschiedliche Religion oder unterschiedliche Herkunft an sich sind kein Grund für gewaltsame Konflikte. Sie entstehen erst, wenn andere Aspekte hinzukommen.

In Europa leben die Konfessionen, die sich im Dreißigjährigen Krieg und in der Bartholomäus-Nacht blutig dahingeschlachtet haben, recht friedfertig zusammen. An der Religion allein scheitert das friedliche Zusammenleben offenbar nicht. Die Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten — selbst wenn sie so unzureichend durchgesetzt ist wie in Deutschland — ermöglicht dies. Deutschland hat enge Beziehungen zu Nachbarn, die vor es vor nicht einmal hundert Jahren als „Erbfeinde” oder als „Lebensraum im Osten“ betrachtet hat und mit zwei Weltkriegen überzogen hat. Mittlerweile leben abertausende Menschen aus diesen Ländern hier und abertausende Deutsche in diesen Ländern. Es liegt also offenbar nicht an der Nationalität, ob Menschen friedlich zusammenleben können, sondern es hängt an den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten: insbesondere politische, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe und effektiver Schutz vor Diskriminierung.

In Deutschland sind heute immerhin ca. 10 Prozent der Bevölkerung nichtdeutscher Nationalität. Von gewaltsamen Auseinandersetzungen, wie Sie diese beschwören, kann keine Rede sein. In vielen Ländern der Welt, in denen es nicht weniger friedlich zugeht als in Deutschland, haben sie sogar noch einen deutlich höheren Anteil an migrantischer Bevölkerung. Ihre Behauptung, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen oder Nationalitäten von vornherein konfliktiv sei, ignoriert, dass dieses Zusammenleben der Regel- und nicht der Ausnahmefall ist.

zu 3.) Ihre Behauptung ist schlicht falsch. Das Aufenthaltsgesetz regelt, dass Ausländer nach Verurteilung wegen schwerer Straftaten ausgewiesen werden.

zu 4.) Das hängt davon ab, was sie unter „integrieren” verstehen. Sie haben Recht, dass wir eine besorgniserregende Desintegration der Gesellschaft erleben. Es werden jede Woche in Deutschland Turnhallen angezündet, jüngst ist eine Politikerin auf offener Straße mit dem Messer niedergestochen worden, täglich werden Menschen auf Grund ihrer Herkunft angegriffen. Ich denke, dass dieser Desintegration durch eine konsequente Durchsetzung der geltenden Gesetze begegnet werden muss.

zu 5.) Sie verdrehen das Problem. Hier in Berlin stehen jeden Tag hunderte Menschen, teilweise mehrere Tage lang an, weil sie sich bei der zuständigen Stelle registrieren lassen wollen. Sie werden nicht vorgelassen, weil diese Prozedere derart langwierig ist, dass es die Verwaltung seit Monaten nicht schafft, die Registrierungen in der notwendigen Geschwindigkeit vorzunehmen.

zu 6.) Die von Ihnen zitierte Boulevardzeitung beruft sich auf einen Sprecher des IS. Ich finde es ärgerlich, wie durch solche Zeitungsmeldungen unhinterfragt IS-Propaganda weitergetragen wird. Das Ziel der IS-Terroristen ist, Angst zu verbreiten, um damit demokratische und rechtsstaatliche Errungenschaften, die ihnen ein Dorn im Auge sind, abzuschaffen. Sie wollen einen Kulturkampf zwischen Muslimen und Nichtmuslimen entfachen. Der Nebeneffekt ist, dass jene, die vor den Terroristen fliehen, hier kriminalisiert werden.

Mittlerweile haben BND und Verfassungsschutz, die jetzt nicht gerade verdächtig sind, terroristische Bestrebungen zu bagatellisieren, mitgeteilt, dass die Behauptungen des IS substanzlos und reine Propaganda sind. Schon rein logisch macht es wenig Sinn, Terroristen auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer und die sich dann anschließende Balkanroute zu schicken. Das hält rechte Blogger nicht davon, weiter dieses Gerücht zu streuen und damit genau das zu tun, was sich der IS wünscht.

zu 7.) Ich weiß nicht, auf welche Aussage, welches/r PolitikerIn Sie sich beziehen. Am besten fragen Sie den/die Betreffende persönlich. Für einzelne Herkunftsländer lassen sich Schätzungen auf Grund des Ausbildungsniveaus der entsprechenden Länder anstellen. Die Bundesagentur für Arbeit erhebt derzeit Daten zum Ausbildungsniveau der Ankommenden und hat erste Schätzungen dazu auch bereits veröffentlicht.

zu 8.) Ich kann nicht für andere PolitikerInnen sprechen. Ich weiß auch nicht, auf welchen Teil des Schengener Grenzkodex Sie sich beziehen. Grundsätzlich kann man Folgendes sagen: In der Vergangenheit haben EU-Staaten mit autokratischen Machthabern in Nordafrika zusammengearbeitet, die dafür sorgten, dass Flüchtlinge auf ihrem Weg aufgehalten werden und gar nicht mehr bis an die Grenzen der EU kamen. Mit dem arabischen Frühling und dem Sturz von Autokraten wie Gaddafi ist dieses System zusammengebrochen. In Griechenland sind Flüchtlinge in der Vergangenheit rechtswidrig interniert worden. Flüchtlingsboote wurden auf hoher See abgedrängt. In der Syrienkrise, die sich mittlerweile im vierten Jahr befindet, hat man sich ebenfalls darauf verlassen, dass die Flüchtlinge im Libanon, der Türkei und Jordanien bleiben. Die Kürzungen der Gelder aus internationalen Hilfsprogrammen in den Flüchtlingslagern und die fehlende Perspektive in den genannten Ländern, lassen mehr SyrerInnen als bisher nach Europa weiterflüchten. In ihrer Verzweiflung überschreiten sie Grenzen da, wo es möglich ist.

Will man also, dass, wie es im Schengen -Grenzkodex heißt „die Außengrenzen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden” dann muss man in der Tat einen Zaun um die 14.151 km EU-Außengrenze bauen. Oder mindestens um die südlichen, nördlichen und östlichen Teile, was immer noch mehrere Tausend Kilometer sind. Bereits jetzt ist die Bundespolizei nur mit den überstürzt eingeführten Grenzkontrollen völlig überlastet. Die Beamten haben seit September eine halbe Million Überstunden angehäuft, aus reiner Symbolpolitik.

Ungarn hat die Idee des Zaunbaus verfolgt und verletzt damit häufig ganz eklatant einen anderen Teil des Kodex, nämlich, dass „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben [die Grenzbeamten] die Menschenwürde uneingeschränkt wahren und Personen nicht diskriminieren” dürfen. Diese Politik sorgt dafür, dass die Flüchtlinge im Niemandsland stranden, auf lebensgefährliche Routen abgedrängt werden oder im nahenden Winter den Kältetod sterben. Jene, die jetzt Viktor Orbán preisen, verschweigen gern diese Tatsache.

Aus all den genannten Gründen, gebe ich Ihnen Recht, dass es dringend einer Überarbeitung der europäischen Grenzpolitik bedarf. Nicht zurück zu einer menschenrechtswidrigen Abschottungspolitik. Sondern hin zu sicheren Fluchtwegen und einer gerechten Aufteilung der Kosten für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen in Europa.

zu 9.) Meine derzeitige Hauptaufgabe, um ein Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenzuwirken, sehe ich derzeit in vier verschiedenen Hauptaufgaben:
- der Bekämpfung rassistischer Hetze und des Terrors, der sich gegen Geflüchtete richtet;
- die Verhinderung, dass Geflüchtete und bereits jetzt sozial ausgegrenzte Teile der Bevölkerung gegeneinander ausgespielt werden. D.h. keine Infragestellung von Errungenschaften wie Mindestlohn mit Verweis auf Flüchtlinge.
- Ausbau sozialer Infrastruktur, insbesondere im Bereich des Bildungs- und Gesundheitswesens und des sozialen Wohnungsbaus.
- Aufbau einer gemeinsamen europäischen Perspektive im Umgang mit Geflüchteten.

Freundliche Grüße
Katja Kipping