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Rita Hagl-Kehl
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Frage von Jürgen Z. •

Ist eine TRIAGE im Zusammenhang mit Corona unter Beachtung der Verfassungsgerichtsentscheidung 1 BvR 357/05 -, Rn. 1-156 vom 15.02.2006 verfassungskonform?

Sehr geehrte Frau Hagl-Kehl,
da die Ministerin ja auf diesem Weg nicht mehr angesprochen werden kann, meine Frage an Sie:
das RND berichtete am 17. November:
Für den Ernstfall, dass tatsächlich schwerwiegende Kapazitätsengpässe auf den Intensivstationen auftreten und triagiert werden muss, hat die DIVI, zusammen mit sieben weiteren Fachgesellschaften, im April vergangenen Jahres einen Leitfaden erstellt. Wichtigstes Kriterium der Triage ist demnach die klinische Erfolgsaussicht.
Das heißt, es werden – ...– die Patientinnen und Patienten intensivmedizinisch priorisiert, die durch die Maßnahmen eine höhere Überlebenschance haben. Patientinnen und Patienten, bei denen es nur sehr geringe Aussichten gibt, dass sie überleben, werden nicht intensivmedizinisch behandelt. So könne eine Diskriminierung von Erkrankten aufgrund ihres Alters, einer Behinderung oder ihres sozialen Status vermieden werden, ...
Ist eine solche Entscheidung auf Basis nicht transparenter Grundlagen überhaupt zulässig?

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Z.,

vielen Dank für Ihre Nachricht zur Triage im Rahmen der Corona-Pandemie über die Online-Plattform abgeordnetenwatch.de.

Bei Ihrer Frage gilt es zuerst zwischen dem 1) Abwehrrecht auf Leben und Würde und der 2) Schutzpflicht des Staates zu unterscheiden.

Die von Ihnen erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2006 betrifft das Abwehrrecht auf Leben und Würde gegen den Staat. In der Entscheidung wurde der Grundsatz, dass eine aktive Tötung vom Staat nicht durch Verrechnung von Leben gegen Leben gerechtfertigt werden kann, für das Strafrecht zu Grunde gelegt. Mit seiner Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Sinne des Grundgesetzes entschieden und argumentiert, dass der Staat nicht unschuldige Menschen töten darf, um eine größere Gruppe von Menschen zu schützen, da eine „Abwägung von Leben gegen Leben“ nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist.

Dies gilt jedoch nicht auch auf Weiteres für die Schutzpflicht des Staates: Der Staat darf durchaus versuchen, möglichst viele Menschen zu retten, wenn er dafür nicht aktiv unschuldige Menschen tötet, sondern Hilfsmaßnahmen unterlässt. Falls es nicht um die aktive staatliche Tötung geht, sondern etwa darum, knappe Ressourcen zu verteilen und zu priorisieren, kann es also durchaus ein begründetes Ziel sein, mit den vorhandenen Ressourcen die Zahl der geretteten Menschenleben zu maximieren.

Das Verbot, Leben gegen Leben abzuwägen – das sich aus der Menschenwürde ergibt – gilt beim Abwehrrecht auf Leben also umfassender als bei der Schutzpflicht für das Leben.

Die Empfehlungen von sieben deutschen ärztlichen Fachgesellschaften vom März 2020 für die „Zuteilung von Ressourcen in der Notfall – und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ sind zu begrüßen. Wie Sie korrekt angemerkt haben, betonen die Empfehlungen, dass eine Priorisierung nicht allein auf Grund des Alters oder sozialer Kriterien zulässig ist und dass aus verfassungsrechtlichen Gründen „Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden“ dürfen.

In gleicher Weise argumentierte der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-Hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“, ebenfalls vom März 2020. Die Empfehlung hob hervor, dass die Menschenwürdegarantie einen „(…) Diskriminierungsschutz aller“ gewährleistet indem sie nicht nur staatliche Vorgaben untersagt, die bei der Zuteilung von Lebenschancen „Differenzierungen etwa aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft“ vornehmen, sondern dem Staat auch „eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen ‚Wertigkeit’ oder einer prognostizierten Lebensdauer“ eindeutig verbietet.

Für die Wahrung der Menschenwürde ist demnach entscheidend, dass Priorisierungen nicht auf einer zu erwartenden „Restlebensdauer“ oder anderen Faktoren basieren, sondern nur auf den Überlebenswahrscheinlichkeiten und Heilungschancen des konkreten Patienten. Eine Priorisierung auf Grund der Heilungschancen ist dabei eine transparente Grundlage, die alle anderen Faktoren ignoriert und zudem gängige Praxis in der Notfallmedizin ist.

Klar ist, dass eine Priorisierung im Rahmen der Corona-Pandemie von Anfang zu vermeiden ist. Zusammen mit FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben wir am 17.11.2021 im Bundestag das neue Infektionsschutzgesetz auf den Weg gebracht, um der Pandemie entsprechend entgegenzutreten. Dieses Gesetz bietet Bund und Ländern die Möglichkeiten, effektiv auf die Pandemie-Entwicklung zu reagieren und Menschen unter 2 bzw. 3G-Regeln zu schützen. Das Infektionsschutzgesetz bietet natürlich die Möglichkeit, Maßnahmen entsprechend der Pandemie-Entwicklung anzupassen.

Für weitere Fragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Rita Hagl-Kehl

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