Wie passt es zu Ihrer Neutralität, „Lüge“-Rufe zu sanktionieren, AfD-Aussagen aber als Meinung zu schützen und zugleich Regenbogenflaggen am Reichstag zu verbieten?
Sehr geehrte Frau Klöckner,
im Juni 2025 erteilten Sie dem Linken-Abgeordneten Sören Pellmann einen Ordnungsruf, weil er „Lüge!“ in Richtung eines AfD-Redners rief. Ihre Begründung: jede Äußerung im Bundestag sei eine „Meinung“ und dürfe deshalb nicht als Lüge bezeichnet werden (Tagesschau, 12.06.2025). Damit schützen Sie faktisch falsche Behauptungen als „Meinungen“, während Kritik daran sanktioniert wird.
Im Mai 2025 untersagten Sie zudem Regenbogenflaggen am Reichstagsgebäude und sogar an Abgeordnetenbüros. Sie erklärten, die Fahne sei ein „parteiisches Symbol“ – obwohl sie weltweit für Vielfalt und Menschenrechte steht (t-online, 03.07.2025).
Beides erweckt den Eindruck, dass Sie Ihre Neutralitätspflicht nicht wahren. Wie wollen Sie glaubhaft machen, dass Sie Ihr Amt überparteilich ausüben?
Sehr geehrter Herr W.,
danke für Ihre Frage. Da Sie sich auf meine Aufgaben als Bundestagspräsidentin beziehen, antworte ich Ihnen nicht in meiner Funktion als Abgeordnete, sondern als Vertreterin des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag und der Gesamtheit seiner Mitglieder sowie dank der Zuarbeit der Bundestagsverwaltung:
Zunächst möchte ich auf den von Ihnen erwähnten Ordnungsruf eingehen: Die Auseinandersetzung im Plenum des Deutschen Bundestages darf und soll durchaus scharf und engagiert geführt werden. Für gezielte Diffamierungen einzelner Personen ist dort jedoch kein Platz. Einige Begriffe gelten seit jeher als besonders ehrverletzend – etwa „Rassist“, „Volksverhetzer“ oder auch „Lügner“.
Werden solche Begriffe in personalisierter Weise und bewusst beleidigend gebraucht, verletzt das die parlamentarische Ordnung. In solchen Fällen ist das Präsidium gehalten, mit einer Ordnungsmaßnahme zu reagieren.
Dabei geht es nicht um das Einschränken von Kritik, sondern um ihren Stil. Scharfe inhaltliche Kritik ist auch ohne persönliche Herabwürdigung möglich – davon bin ich überzeugt. Es ist erlaubt zu sagen, dass eine Aussage „nicht den Tatsachen entspricht“ oder „die Unwahrheit“ enthält – das ist eine sachliche Auseinandersetzung. Ein pauschaler Vorwurf wie „Lügner“ dagegen zielt auf die Person, nicht auf das Argument.
Zum Thema Regenbogenflagge: Die Flaggenordnung des Bundestages sieht vor, dass „zu tageweise bestimmten Anlässen“ beflaggt werden kann. Ich habe auf dieser Grundlage entschieden, einmal jährlich die Regenbogenflagge auf dem Reichstagsgebäude zu hissen. Dies geschieht anlässlich des 17. Mai – dem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie. Am 17. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel für Krankheiten. Zudem wählte der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 bewusst diesen Tag, um mit einem Beschluss symbolisch Urteile gegen Homosexuelle aus der Zeit des Nationalsozialismus aufzuheben. Der 17. Mai steht deshalb in besonderer Weise für den Kampf gegen Diskriminierung und für die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität. Das Hissen der Regenbogenflagge an diesem Tag unterstreicht diese Haltung.
Am Christopher-Street-Day wird die Regenbogenfahne auf vielfältige Weise durch die Menschen selbst getragen und verbreitet, nicht durch die Institution Bundestag. Dort bleibt die Bundesflagge gehisst, als eines der wichtigsten Zeichen unseres Staates. Die Bundesflagge repräsentiert das, wofür unser Grundgesetz steht – eben auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und gegen Diskriminierung.
Der Deutsche Bundestag steht mit dieser Entscheidung im Einklang mit den Bundesministerien, für die bereits am 28. April dieses Jahres vom Bundesministerium des Innern unter Nancy Faeser festgelegt wurde, dass sich das Setzen der Regenbogenflagge auf einen konkreten Termin eines Kalenderjahres beziehen und auf einen einzigen Termin im Jahr beschränkt bleiben muss.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Sie selbstverständlich die Möglichkeit haben, auch auf direktem Weg mit dem Deutschen Bundestag, seinen Abgeordneten oder mir als seiner Präsidentin Kontakt aufzunehmen. Zum Beispiel über: https://www.bundestag.de
Herzliche Grüße
Julia Klöckner