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Ingrid Nestle
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Frage von Jürgen B. •

Bis 2023 werden die letzten 6 AKW's mit einer Leistung von 8 GW vom Netz gehen - bis 2030 sollen alle Kohlekraftwerke mit über 20 GW abgeschaltet werden. Wie ist diese Lücke zu füllen?

Um die abgeschaltete Leistung von 28 GW zu erbringen müssen 7.000 Windkraftanlagen mit je 4 MW errichtet werden. Da diese jedoch nur 1/4 bis 1/3 der Stromerzeugung liefern können sind also 21.000 bis 28.000 Anlagen dieser aktuell höchsten Leistungsklasse für onshore-Anlagen erforderlich.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Volllaststunde
Darüber hinaus sind diese nicht grundlastfähig. Wird damit unser Energiesystem, welches mit zusätzlichen e-Autos und elektrischen Wärmepumpen noch wesentlich mehr gefordert wird, nicht kollabieren?

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr B.

vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihr kritisches Nachfragen.

Tatsächlich ist der notwendige Umbau unserer Energieversorgung kein Selbstläufer, sondern muss von der kommenden Regierung mit aller Entschiedenheit und Sachverstand befördert werden. Dies umfasst deutlich mehr als einfach nur die einen Kraftwerke abzuschalten und gleichzeitig Windräder übers Land verstreut aufzustellen - denn so könnte es wirklich nicht gelingen.

Das Energiesystem von morgen unterscheidet sich vom heutigen grundsätzlich darin, dass es nicht mehr um wenige zentral gelegene Kraftwerke aufgebaut ist. Stattdessen ist es ein Zusammenspiel aus unterschiedlichen EE-Anlagen, Speichern, Netzen und intelligenter Steuerung. Entsprechend hat auch niemand vor, die gesamte Kraftwerkskapazität der fossilen Kraftwerke in Windenergieanlagen an Land zu ersetzen. Vielmehr werden wir dabei im großen Maße auch auf Offshore-Anlagen (dort planen die Betreiber aktuell mit 10 MW Anlagen), PV, Wasserkraft und mit erneuerbarem Gas betriebene Kraftwerke setzen. Allerdings brauchen wir bei den wetterabhängigen Erneuerbaren auch deutlich mehr installierte Leistung, um die gleiche Strommenge zu erzeugen.

Dabei kommt es außerdem maßgeblich darauf an, dass sich der flexible Teil des Stromverbrauchs künftig stärker nach der Verfügbarkeit von Wind und Sonne richtet. Während in der Vergangenheit fossile Kraftwerke entsprechend der Verbrauchsprognosen für die nächsten Tage ihr Produktion anpassten, können in Zukunft flexible Stromverbraucher die tages- und stundenaktuelle Stromproduktion aus Wind und Sonne berücksichtigen und damit Geld sparen. Das bedeutet natürlich nicht, dass in einer Autofabrik in Zukunft alle 5min die Laufbänder stillstehen, weil gerade Flaute ist. Manche Prozesse brauchen schlicht einen kontinuierliche Stromversorgung, andere hingegen können ohne Verluste in bestimmte Zeitfenster geschoben werden. Es wird von einer guten Ausgestaltung des Strommarktdesigns abhängen, dass Unternehmen dadurch finanziell profitieren können. Immerhin ist der Strompreis bereits heute zu manchen Zeiten an der Strombörse nahe oder sogar unter Null - und zwar immer dann wenn besonders viel Erneuerbare Energie im Netz ist. In Zukunft wird es für Großverbraucher weniger Verzerrungen beim Strompreis aber auch für interessierte Privathaushalte variable Strompreise geben. Denn Dank intelligenter Steuerungssysteme kann man beispielweise den Wärmespeicher von Wärmepumpen in Zeiten von niedrigen Strompreisen füllen oder das E-Auto in unterschiedlich starken Schüben über Nacht laden. E-Autos und Wärmepumpen ziehen weder immer Strom noch müssen sie alle gleichzeitig Strom beziehen. Dadurch muss es weder zu einem massiven Anstieg der Grundlast kommen noch müssen zwangsläufig exorbitante Verbrauchsspitzen auftreten.

Zudem ist es immer wichtiger, die Versorgung europäisch zu betrachten. Strom hat keine Nationalität und macht auch nicht vor Grenzen halt. Nationale Bilanzen sind nur ein Instrument um etwas unsichtbares besser greifbar und regulierbar zu machen. Aber eine nationale Eigenversorgung war, ist und wird nicht möglich sein (auch heute schon importieren wir mit Öl und Gas den Großteil unserer Energie von extern). Ein europäischer Netzverbund bietet die Möglichkeit Schwankungen der Stromproduktion und des Stromverbrauchs großräumig auszugleichen mit Kapazitäten, die die Möglichkeiten eines einzelnen Landes bei Weitem übersteigen. Man kann das Netz in dieser Hinsicht als eine Art Quasi-Stromspeicher verstehen, da es unter anderem eine ähnliche Dienstleistung erbringt wie ein stationärer Kurzzeit-Speicher (nämlich zeitlich auseinanderfallende Stromverbräuche und -produktionen zusammen zu bringen), bzw. auch Anbindung an Langzeitspeicher schafft.

Gleichwohl werden in Zukunft sicherlich auch Engpässe auftreten, die durch Lastverschiebungen, europäischen Stromausgleich und Batteriespeicher nicht vollständig aufgehoben werden können. Darum sehen wir auch in Zukunft die Notwendigkeit von flexibel ansteuerbaren Kraftwerken - nur dass diese dann nicht mehr mit fossilem Erdgas sondern mit erneuerbar erzeugtem Wasserstoff oder Ammoniak betrieben werden. Diese werden sowohl in Zeiten mit hoher erneuerbarer Stromerzeugung in Deutschland produziert als auch aus anderen Ländern mit großer EE-Produktion importiert werden.

Der gesamte Umbauprozess wird dabei durch ein enges Monitoring von BNetzA und BMWi begleitet. Regelmäßig wird dazu in Zusammenarbeit mit den Übertragungsnetzbetreibern und der Wissenschaft das System hinsichtlich Netz- und Systemsicherheit kontrolliert und fossile Kraftwerke können nur dann vollständig vom Netz gehen, wenn die Analysen dies sicher bestätigen. Andernfalls gehen die Kraftwerke zwar aus dem Markt, verbleiben aber vorerst betriebsbereit am Netz.

Mit freundlichem Gruß

Ingrid Nestle

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