Helmut Scholz
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DIE LINKE
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Frage von Andreas F. •

Frage an Helmut Scholz von Andreas F. bezüglich Innere Angelegenheiten

Sehr geehrter Herr Scholz,

in der aktuellen Situation, stelle ich mir die Frage, wie wir es gemeinsam schaffen, dass jeder ein Recht auf alle Meinungen hat, die es in Deutschland gibt?
Ich habe das Gefühl, dass in den breiten Medien immer nur die selben Personen Gehör finden.
Es wird mit der Angst und Panik gearbeitet, die die Bevölkerung gefühlt in zwei Hälften teilt. Wie kann das sein, weil wir doch ein Land sind? Wie können wir in Zeiten der EU die Grenzen schließen, wo wir doch eine Union sind?

Ich finde, es sollte eine Regierung sein, die das Wohl des Volkes an erster Stelle nimmt. Wie kann es sein, dass viele Großkonzerne in unserem Land keine Steuern zahlen, aber mit Spenden und Lobbyisten dennoch ihre Macht demonstrieren und ihre Stimme in dem Land, in dem sie eigentlich nichts zu sagen haben, ganz oben positionieren?

Ich bitte Sie eindringlichst alle Stimmen wahrzunehmen.

Herzlichst,

A. F.

Helmut Scholz
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Fleischhauer,

danke für Ihre Frage.

Leider ist es in einer so medial geprägten Welt schwierig, in dem riesigen Strauß an unterschiedlichen Kanälen durchzudringen. Oft ist es bedauerlicherweise so, dass die oder der Lauteste am ehesten wahrgenommen wird. So gehen nicht selten alternative Meinungen unter, werden abweichende Ansichten kaum publik. Unsere Medienlandschaft ist zum Glück breit aufgestellt, ja. Und grundgesetzlich haben wir eine öffentliche-rechtliche Informations- und Meinungsbildungsstruktur mit gesetzlich verankertem Auftrag - aber auch in dieser mit all den staatlichen, privaten oder Gruppeninteressen und dem Markt untergeordneten Akteur*innen und Strukturen entsteht eine Pluralität und zugleich die Schwierigkeit, die es in dieser Breite auch schwer macht, mit dieser oder jenen Information und Position durchzudringen, wahr genommen zu werden und adäquat an der Meinungsbildung der Gesellschaft Teilhabe zu haben. Hier ist letztlich - bei Wahrung des öffentlichen Informationsauftrags – jede*r selbst gefragt, sich einzubringen.

Ich stimme Ihnen zu: Wer einmal medial als „wichtig“ wahrgenommen wurde, der hat es oftmals leichter, im Folgenden mit seinen Ansichten erneut durchzudringen und Gehör zu finden. Zumal in mediengeprägten Gesellschaften wie den unseren, von der Beschneidung und Eingrenzung der Medienfreiheit in anderen Ländern und Gesellschaften oder der Marktmacht von Mediengroßkonzernen ganz abgesehen.

Die von Ihnen gesehene „Teilung“ der Bevölkerung kann und will ich so allerdings nicht stehen lassen. Ich würde immer von einer, zumindest im übergroßen Maße, Pluralität von Ansichten sprechen. Denn nur, weil wir „ein Land“ sind, müssen und dürfen nicht alle die gleiche Meinung haben. Gerade das macht ja auch Demokratie aus: eine Mehrheit, eine Minderheit und die Chance zu deren Rollentausch. Nur so existiert und bleibt Vielfalt.

Zum Umstand der Grenzschließungen habe ich eine klare Position: Sie widerspricht der Gesetzeslage der Europäischen Verträge und ist als solche unbedingt zu hinterfragen. Abschottung ist keine Lösung, war sie auch noch nie! Allein der Mensch zieht und erkennt Grenzen. Weder Flora noch Fauna, und erst recht keine Viren, sind durch Grenzen zu stoppen. Vielmehr kann nur eine breit aufgestellte Zusammenarbeit, gemeinsames Agieren – ganz im Europäischen Sinne „In Vielfalt geeint“ – helfen, voranzukommen. Das schließt, wie beispielsweise im Fall von Covid-19, strenge Hygienevorschriften überhaupt nicht aus - was wir auf der einen Seite einer Grenze praktizieren, kann und muss auch auf der anderen Seite einer Grenze realisiert werden. Zum Beispiel in Frankfurt (Oder) und Slubice - es stärkt sowohl die gemeinsamen Anstrengungen der jeweiligen Verwaltungen, als auch mögliche, sich gegenseitig unterstützende Maßnahmen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenleben in der Region.

Ihr Satz zu Aufgaben einer Regierung und deren Agieren zum Wohle des Volkes weist auf eine wichtige Seite des Problems: Nationale Regierungen sind ja qua Amt verpflichtet, zum Wohle ihrer Nation, ihres Volkes, der in einem Staat lebenden Menschen zu agieren. Inwieweit ihr Agieren diesen Auftrag real widerspiegelt wird in den EU-Mitgliedstaaten mittels der demokratischen Verfassungsrealität dann in Wahlen zur Disposition gestellt - und jede Bürgerin und jeder Bürger hat die Möglichkeit, den Regierenden dann ein Zeugnis auszustellen und diese ab- oder auch wieder zu wählen. Ganz abgesehen davon, dass ich selbst viel mehr auch wirksame Instrumente für eine transparente und permanente Meinungsbildung sowie für eine aktive Teilhabe der Menschen an Entscheidungen der Regierung auch zwischen den Wahlterminen befürworte.

In Bezug auf die EU haben wir aber in vielen einzelnen Bereichen - darunter im Gesundheitswesen - nach „verfassungsrechtlicher“, also nach gesetzlicher Lage her keine direkte Entscheidungskompetenz der EU-Institutionen. Das war und ist so bislang ausdrücklich von den Mitgliedstaaten der EU gewollt; eben auch, weil wir im engeren Sinne kein „Europäisches Volk“ „haben“ bzw. sind - sondern bewusst die Vielfalt der kulturellen, nationalen und auch gesellschaftlichen, weil oft historisch sich so herausgebildeten Besonderheiten der in den 27 Mitgliedstaaten der EU lebenden Menschen bewahren wollen.

Inwieweit wir auch in dieser HHinsicht mehr gemeinschaftliche Entscheidungen an die EU-Institutionen übertragen wollen, muss Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen Debatte sein. Und vielleicht zeigen uns die gegenwärtigen Erfahrungen um Covid-19, dass wir in der einen oder anderen Hinsicht dringend Handlungsbedarf hinsichtlich der Überprüfung der EU-Verträge, zum Wohle des Zusammenlebens der Menschen in Europa, haben. So lange wir als Gesellschaften diese Fragen immer wieder nur auf Markt und Wettbewerb reduzieren, nicht die Frage von Qualität und Vielschichtigkeit der uns alle betreffenden Entscheidungen beantworten und oftmals selbst innerhalb der EU aus politischen und wirtschaftlichen Machtfragen im Nationalen verharren und nationale Egoismen bedienen, wird ein konsequenter Schritt, hin zu mehr Gemeinschaftsentscheidungen in und für Europa, schwer.

Dann wären - vereinfacht, aber prinzipiell gesagt - nationale Wettbewerbsvorteile längst nicht mehr so wichtig, da die Entscheidungsperspektive nicht auf den Unterschied und wirtschaftlichen Vorteil, sondern auf die gemeinsame Herausforderung und Aufgabe gerichtet wäre. Auch und gerade nationale, internationale oder auch global agierende transnationale Großkonzerne könnten dann die EU-Mitgliedsstaaten nicht in einem marktwirtschaftlichen Wettbewerb gegeneinander ausspielen bzw. sich die Mitgliedsstaaten nicht in einen Unterbietungswettbewerb der wirtschaftsfreundlichsten Nation begeben. Wenn es egal wäre, ob Amazon seine Gewinne am europäischen Firmensitz in Dublin, Athen, Helsinki oder Berlin macht, die Gewinne aber in und für Europa zu versteuern hätte – dann wären wir einen großen Schritt weiter.

Ein noch weiter und langer Weg. Ich bin gewillt, ihn weiterzugehen und mich für eine solche Politik einzusetzen - im Europäischen Gedanken. Für eine faire und ethische Handelspolitik, in, für und mit Europa – und idealerweise weltweit. Und gerade mit Blick auf die gegenwärtigen Diskussionen sehe ich in dieser Hinsicht keine sinnvolle Alternative zur freundschaftlichen, friedlichen und solidarischen Gemeinsamkeit in und der EU.

Freundliche Grüße an Sie zurück – und bleiben Sie in der aktuellen Zeit gesund!

H. Scholz

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