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Alexander Ulrich
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Frage von Leon S. •

Frage an Alexander Ulrich von Leon S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Ulrich,

im Zuge meiner inzwischen schon weit über 10 Jahre anhalten privaten Auseinadersetzung mit dem kontemporären Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell komme ich wiederholt zu dem Schluss, dass die Dogmen Wirtschaftswachstum und Konsumsteigerung, Schuldgeld und Profitmaximierung, kurzum postfordistischer, neoliberaler Kapitalismus zunehmend fatale Folgen in sämtlichen Lebensbereichen hat.

Einhergehend mit der schleichenden, aber beständigen Aushebelung demokratischer Prinzipien (z.B. TTIP, Vorratsdatenspeicherung, "Troika" usw.) droht eine Dystopie die weit über Orwell/Huxley hinausgeht.

Ihnen und Ihrer Partei traue ich zu entschieden Entgegenzuwirken. Daher die Frage, ob und wie Sie der offensichtlichen "alternativlosen Status-Quo-Erhaltungspolitik" beikommen wollen/können und wie intensiv Sie sich mit nachhaltigen, durchaus auch radikal anderen Wirtschaftsformen auseinandersetzen und ein Wirken entgegen dem geldmonopolistischen Establishment erwägen und umsetzen. Danke im Voraus für eine werthaltige Antwort,

mit freundlichen Grüßen

Leon Sieberath

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Antwort von
BSW

Sehr geehrter Herr Sieberath,

herzlichen Dank für Ihre Nachricht. Sie sprechen die wohl grundsätzlichste aller wirtschaftspolitischen Fragen an: Jene nach der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen. Ich teile die Einschätzung, dass die genannten Dogmen sämtliche Lebensbereiche negativ berühren. Die gegenwärtig dominante Wirtschaftsform hat über Jahrzehnte hinweg zu einer immer weiteren Entfremdung der Menschen geführt und sie zunehmend auf ihre Rolle als ProduzentInnen und KonsumentInnen reduziert. Zudem werden zwangsläufig immer weitere Bereiche kommodifiziert, sprich: zur Ware gemacht, vermarktlicht. Dies ist systemisch erforderlich, um den immer größeren Kapitalmengen rentable Anlagemöglichkeiten zu bieten. Ihren konkreten Ausdruck findet diese Entwicklung u.a. in der Privatisierung sozialer Sicherheit (bspw. private Altersvorsorge), der Inwertsetzung der Natur (bspw. CO2-Zertifikatehandel) oder auch der Zerstörung bestehender Werte durch kriegerische Handlungen.

Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen, dass dieses System zwangsläufig früher oder später, auf die eine oder andere Weise in die Katastrophe führt. Die diversen systemischen Krisen - Wirtschaftskrise, Schuldenkrise, Finanzkrise, Energiekrise, Klimakrise etc. - welche ja alle Ausdruck der Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems sind - deuten darauf hin, dass sich die ganze Angelegenheit kaum noch managen lässt. Am evidentesten ist das wohl bei der Klimakrise. Wir werden die Biosphäre nicht der Marktlogik unterordnen können. Ein Wirtschaftssystem, dass systematisch auf einer immer größeren Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Belastung natürlicher Senken beruht, muss den Planeten zwangsläufig irgendwann zum Kollabieren bringen, wenn es nicht gestoppt wird.

Allerdings halte ich auch wenig davon, konzeptlos auf Schrumpfungsökonomie zu setzen. Im gegebenen Rahmen ist Wirtschaftswachstum unerlässlich, sonst landen wir in der sozialen Katastrophe. Sinnvoller finde ich daher Ansätze, die zunächst darauf bauen, "den Märkten" Kapital zu entziehen, zum Beispiel durch eine sehr umfassende Vermögensabgabe. Je weiter wir die gigantischen Privatvermögen abbauen, desto mehr bauen wir auch den Druck ab, immer neue Anlagemöglichkeiten zu schaffen, sprich: zu privatisieren, zu zerstören und letztlich auch zu wachsen. Diese Abschmelzung von Mega-Vermögen würde zugleich die Möglichkeit eröffnen, in großem Stil öffentliche Schulden abzuschmelzen und in nachhaltige Wirtschaftszweige zu investieren und so anderen Systemkrisen zu begegnen. Mit diesem Ansatz würden wir uns zwar immer noch im Rahmen des gegebenen Systems bewegen, aber doch recht weit an die Grenze gehen. Die Grenze dann irgendwann zu überschreiten ist m.E. ein Schritt, der nicht einfach plan- und machbar ist. Dieser große Schritt setzt zunächst ein gesellschaftliches Umdenken voraus. Wir müssten uns aus unserer reduzierten Rolle als ProduzentInnen und KonsumentInnen befreien.

Das Thema ist so groß, dass man Nächte lang darüber diskutieren und seitenlange Mails schreiben kann. Ich will es nun bei diesen Gedanken belassen. Kennen Sie unseren "Plan B"? Darin haben wir uns mit der Frage befasst, wie eine zukunftsfähige Ökonomie aussehen könnte. Sie finden ihn hier: https://www.plan-b-mitmachen.de/. Selbstverständlich sind wir Linken bei diesen großen Fragen nicht immer einer Meinung. Aber selbstverständlich ist auch, dass wir viel darüber diskutieren und versuchen, gemeinsame Positionen und Strategien zu finden. Der Plan B ist Ausdruck solcher Diskussionen, aber keineswegs deren Ende.

Mit besten Grüßen,
Alexander Ulrich

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