Wie Sie sicherlich wissen ist d. BRD das einzige Land in der EU dass auf Bundesebene - mangels Gesetz - KEINE Volksabstimmungen/Referenden durchführen kann. Finden Sie dies demokratiefördern o. nicht?
Sehr geschätzte Frau MdL Sarah Hagmann, die Grünen haben seit Ihrer Gründung 1980 bis 2021 immer sich für MEHR DIREKTE DEMOKRATIE - sprich Volksbegehren, Volksentscheid, Volksabstimmung auf ALLEN Ebenen usw. eingesetzt. Wegen dem sehr enttäuschenden Brexit-Votum 2016 ist aber die Stimmung innerhalb der Grünen plötzlich gekippt und 2021 beim " COVID 19 -Bundesparteitag digital" Ihrer Partei unter der Initiative von Robert Habeck und Jürgen Trittin hat man kurzerhand eine 180 Grad Kehrtwendung gemacht und praktisch sich GEGEN DIREKTE DEMOKRATIE (sprich bindende Referenden usw.) auf Bundesebene sogar im Parteigrundsatzprogramm der Grünen ausgesprochen - wegen der Gefahr des "Populismus" (Totschlagargument : BREXIT). Wie denken Sie, bitte, in Sachen direkte Demokratie und Schweizer Modell, bitteschön ? Danke für die Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr B.,
bei Bündnis 90/Die Grünen haben wir uns seit unserer Gründung für mehr Bürgerbeteiligung eingesetzt, und dies ist auch weiterhin ein zentraler Wert unserer Partei. Wir sind überzeugt, dass Demokratie lebt, wenn Bürger*innen nicht nur alle paar Jahre wählen, sondern auch aktiv an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben können. Instrumente wie Bürgerentscheide, Volksabstimmungen oder Bürgerräte können dabei eine wichtige Rolle spielen.
Gleichzeitig müssen wir aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen und darüber nachdenken, wie wir direkte Demokratie verantwortungsvoll gestalten können. Der Brexit hat gezeigt, welche Dynamiken entstehen können, wenn komplexe Fragestellungen in einem binären "Ja-Nein"-Entscheid münden, ohne dass alle Konsequenzen ausreichend diskutiert und bedacht wurden. Im Vereinigten Königreich hat dies zu einer Polarisierung und zu langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen geführt.
Aus diesen Gründen treibt uns die Frage um, wie Bürgerbeteiligung sinnvoll ausgestaltet werden kann. Uns ist es wichtig, klare Bedingungen und Schutzmechanismen zu schaffen, um populistische oder vereinfachende Kampagnen zu vermeiden, die die Gesellschaft spalten könnten. Wir setzen uns daher für Formate ein, die Bürgerbeteiligung fördern, aber gleichzeitig die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Das Schweizer Modell wird in diesem Zusammenhang oft als Vorbild genannt. Allerdings sind die politischen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland anders, weshalb wir diese nicht 1:1 übertragen können. Stattdessen plädiere ich für eine Weiterentwicklung unserer Strukturen, die sowohl Bürgernähe als auch Verantwortung und fundierte Entscheidungsprozesse ermöglicht.
Als Landtagsabgeordnete möchte ich anmerken, dass die Regelungen zur direkten Demokratie auf Bundesebene nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen. Dennoch setze ich mich auf Landesebene für die Stärkung von Bürgerbeteiligung ein. Dafür haben wir in Baden-Württemberg im Rahmen der „Politik des Gehörtwerdens“ in den letzten Jahren viel getan: So haben 2015 die vier Fraktionen im Landtag gemeinsam die Hürden für Volksbegehren und Volksabtimmungen gesenkt und mit dem Volksantrag ein neues direktdemokratisches Instrument eingeführt.
Daneben haben wir eine Reihe von dialogischen Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen: etwa das Online-Beteiligungsportal, über das Bürger*innen Gesetzesentwürfe kommentieren können; das Netzwerk „Allianz für Beteiligung“, mit dem zivilgesellschaftliche Akteure unterstützt werden; die „Servicestelle Dialogische Bürgerbeteiligung“, die bei Kommunen und Verwaltung ansetzt; oder das Gesetz über die dialogische Bürgerbeteiligung, das die Grundlage bildet für Bürgerforen mit Zufallsbürger*innen, die bei wichtigen Gesetzen der direkten und repräsentativen Demokratie vorangeschaltet werden.
Zusammenfassend: Ich stehe für eine Stärkung der Bürgerbeteiligung und bin offen für neue Ansätze, wie wir Demokratie weiterentwickeln können. Direkte Demokratie kann ein wertvolles Instrument sein, muss aber so gestaltet werden, dass sie zur Stabilität unserer Gesellschaft beiträgt.
Vielen Dank für Ihre Anregung und Ihr Engagement für dieses wichtige Thema.
Mit freundlichen Grüßen
Sarah Hagmann

