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Rita Schwarzelühr-Sutter
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Frage von Manfred S. •

Frage an Rita Schwarzelühr-Sutter von Manfred S. bezüglich Jugend

Guten Tag,

Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie man Menschen ein bestimmtes
Lebensmodell mit ihren Kindern vorschreiben will, auch einer obersten
Familienrichterin in Deutschland gestehe ich dieses Recht nicht zu. Wenn
Eltern meinen, ihr Kind nicht schon, wenn es gerade 1 Jahr alt geworden
ist, in eine institutionelle Betreuung zu geben, dann sollte das
respektiert werden. Letztlich geht es um einen ganz kleinen wehrlosen
Menschen, und wer außer den Eltern sollte über dessen Lebensituation
entscheiden? Nicht aber Herr Hundt, der auf die Arbeitgeberinteressen schaut oder das Frauen- und Familienbild von Linken, Rot und Grün
(das in seiner Diktion mit Herabsetzungen wie "mittelalterlich", "überholtes Familienbild", der diskriminierenden "Herdprämie" etc. arbeitet),
oder die "oberste Familienrichterin". Und wenn Eltern sich entscheiden
ihr Kind nicht in eine Krippe zu geben, bis es 3 Jahre alt ist, warum
sollten sie leer ausgehen, wenn sie den gleiche Job machen, wie die Krippe,
die mit hunderten Euro pro Platz und Monat öffentlich bezuschußt werden?
Kann mir das jemand erklären?
von: Großvater von 4 kleinen Enkeln am: 18.04.2012 08:43

Mit freundlichen Grüßen

Manfred Schreiber

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Schreiber,

ich danke Ihnen für Ihre E-Mail zum Thema: Betreuungsgeld, auch wenn unsere Meinungen darüber auseinandergehen.

Ich lehne ab, dass das Betreuungsgeld an Eltern ausgezahlt werden, die keine öffentliche geförderte Kindertageseinrichtung für ihre Kinder von ein bis drei Jahren in Anspruch nehmen. Vorgesehen sind 100 Euro monatlich ab 2013 und 150 Euro ab 2014.

Sie werfen die Fragen auf, warum Eltern, die ihr Kind nicht in eine Kita geben, „leer ausgehen“ sollten und warum den Familien keine Wahlfreiheit gegeben wird. Mit der Beantwortung dieser Fragen würde ich gerne beginnen und Ihnen folgend noch weitere Argumentationspunkte gegen das Betreuungsgeld näher erklären.

Das Betreuungsgeld ist widersinnig. Das von der Regierungskoalition forcierte Betreuungsgeld ist ein neues Prinzip: Bürgerinnen und Bürger sollen Geld dafür erhalten, dass sie eine staatliche Infrastruktur nicht in Anspruch nehmen.

Das Betreuungsgeld verhindert Wahlfreiheit. Angemessene Rahmenbedingungen sind die grundlegende Voraussetzung für die Entscheidung der Eltern, wie sie ihre Kinder betreuen wollen. Und solange es nicht genügend Kinderbetreuungsplätze gibt, kann man nicht von Wahlfreiheit sprechen. Deshalb müssen die veranschlagten Ausgaben für das Betreuungsgeld in den Kitaausbau gesteckt werden. An der falschen Stelle bewirken sie Unfreiheit statt Freiheit. Noch schlimmer: Mit dem Betreuungsgeld wird gezielt Einfluss darauf genommen, welche Betreuungsform Eltern wählen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weisen darauf hin, dass das Betreuungsgeld verfassungs-rechtlich anfechtbar ist. Und die Sachverständigenkommission zum Gleichstellungsbericht hat der Regierung von einem Betreuungsgeld dringend abgeraten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Arbeitgeberverband fordern die Bundesregierung gemeinsam auf, die Pläne für das Betreuungsgeld aufzugeben. Für den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer und den Präsidenten der BDA Dieter Hundt ist es ein „grundverkehrtes Vorhaben“, mit dem die Bundesregierung einen falschen Anreiz zum Aus-stieg aus dem Beruf setzt.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund empfiehlt, das Geld für den unterfinanzierten Kitaausbau zu verwenden. Dabei bekommt er Unterstützung vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Der Bund der Steuerzahler warnt vor einem „weiteren Ausgabenfass ohne Boden.“ Für den Präsidenten des Kinderschutzbundes ist das Betreuungsgeld nicht „im Sinne der Kinder.“ Die Bundesvorsitzende der Föderation türkischer Elternvereine sagt: „Wir sind grundsätzlich gegen das Betreuungsgeld.“ Gemeinsam haben Gewerkschaften und 21 familien- und frauenpolitische Verbände ein Bündnis gegen das Betreuungsgeld gegründet. Und auch aus Brüssel kommen negative Signale: Die Europäische Kommission rügt das Betreuungsgeld als kontraproduktiv für die Beschäftigungsförderung. Folgend weitere Punkte, die gegen das Betreuungsgeld sprechen.

Das Betreuungsgeld ist ungerecht und verfassungsrechtlich problematisch. Zum einen verletzt das Betreuungsgeld das Nichteinmischungsgebot bei der Familienförderung. Denn Familien, die nicht das Alleinverdienermodell leben, sind von der Leistung ausgeschlossen. Zum anderen wirkt das Betreuungsgeld der Gleichstellung von Frauen und Männern entgegen: Es verhindert den gerechten Zugang zu Erwerbsarbeit und die gerechte Teilung der Familienarbeit. Und schließlich läuft die Förderung dem allgemeinen Gleichheitssatz zuwider. Dieser erlaubt Ungleichbehandlung nur, wenn damit ein Verfassungsziel erreicht wird.

Das Betreuungsgeld ist eine Fehlinvestition. Für 2013 veranschlagt die Bundesregierung 400 Millionen Euro für das Betreuungsgeld. 2014 sind 1,2 Milliarden Euro eingeplant. Doch es lässt sich nur schwer berechnen, wie viele Eltern die neue Leistung in Anspruch nehmen werden. Expertinnen und Experten warnen bereits jetzt, dass die Kosten deutlich höher ausfallen könnten: Nach neuesten Berechnungen sind 2013 bereits zwei Milliarden Euro realistisch. Und dabei ist die Gegenfinanzierung nicht einmal geklärt. Gleichzeitig plant die Bundesregierung Steuersenkungen. Solide Haushaltspolitik sieht anders aus. Es steht außer Frage: Das Geld wäre besser in den Ausbau von Kinderbetreuung investiert.

Das Betreuungsgeld hat hohe soziale Folgekosten. Vor allem für Familien mit niedrigem Einkommen schafft das Betreuungsgeld einen finanziellen Anreiz, den gebührenpflichtigen Kitaplatz gegen eine Geldleistung einzutauschen. Dabei soll gerade bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien die Bildungsbeteiligung steigen. Längst ist erwiesen, dass frühe Förderung und soziale Integration für sie besonders wichtig sind. Darüber hinaus wird die soziale Ungerechtigkeit noch dadurch verschärft, dass gut verdienende Familien das Betreuungsgeld als Zuschuss zur privaten Kinderbetreuung nutzen können.

Das Betreuungsgeld erhöht die Armutsgefährdung von Familien, Frauen und Kindern. Durch das Betreuungsgeld wird die Zahl der Eltern ansteigen, die beruflich aussetzen. Vor allem werden sie länger zu Hause bleiben, als zuvor. Familien, die dauerhaft auf ein Erwerbseinkommen verzichten, geraten jedoch leichter in Armut. Insbesondere die Zukunftschancen von Kindern werden dadurch negativ beeinflusst. Für Frauen bedeutet die Hausfrauenehe finanzielle Abhängigkeit, Armutsfalle im Scheidungsfall sowie Erwerbsminderung und Einbußen bei der Rente. Bereits heute sind Frauen stärker armutsgefährdet als Männer

Das Betreuungsgeld wirkt der Gleichstellung von Frauen und Männern entgegen. Die traditionelle Rollenverteilung wird durch das Betreuungsgeld weiter befördert. Schon heute nehmen Frauen den Großteil von Elternzeit und Elterngeld in Anspruch. Sie werden auch diejenigen sein, die mit dem Betreuungsgeld länger zu Hause bleiben. Sie werden damit quasi vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Eine gleichberechtigte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern rückt damit in noch weitere Ferne.

Das Betreuungsgeld hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Zusammen mit dem Ehegattensplitting und der beitragsfreien Familienkrankenversicherung schafft das Betreuungsgeld einen weiteren Anreiz für Frauen, länger aus dem Beruf auszusteigen. Die Folge: Der Wiedereinstieg wird für sie immer schwieriger. Auch eine ihrer Qualifikation angemessene und bezahlte Tätigkeit wird unwahrscheinlicher, je länger die Auszeit dauert. Die Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern wird so verfestigt. Auf diese Weise verschenken Frauen ihr Potential – während auf dem Arbeitsmarkt Fachkräftemangel herrscht. Von einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann keine Rede sein.

Das Betreuungsgeld hemmt Integration. Kinder mit Migrationshintergrund werden häufig zu Hause betreut. Sie aber brauchen Hilfe beim Spracherwerb und dem Erlernen sozialer und kultureller Fähigkeiten. Diesen Startnachteil können sie später nur schwer wieder aufholen. Erfahrungen mit dem Betreuungsgeld in Norwegen zeigen: Es sind vor allem Eltern mit Migrationshintergrund, die diese Leistung in Anspruch nehmen. Damit werden die Weichen für ihre Kinder falsch gestellt und die integrationspolitischen Fehler der Vergangenheit fortgeschrieben.

Das Betreuungsgeld hat Mitnahmeeffekte: Solange der Kitaausbau keine Fortschritte macht, sind viele Eltern gezwungen, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Sie werden das Betreuungsgeld erhalten – auch wenn sie das Geld lieber in Kita-Plätze investiert sähen. In diesem Zusammenhang von einer familienpolitischen „Förderung“ zu sprechen, ist absurd.

Das Betreuungsgeld ist in anderen europäischen Ländern schon gescheitert. In Finnland (Einführung 1985), Norwegen (1998) und Schweden (2008) hat sich das Betreuungsgeld negativ ausgewirkt. Zum einen sind die Leistungsempfänger vor allem Mütter. Dadurch wurden Fortschritte in der gendergerechten Arbeitsteilung innerhalb von Familien sowie auf dem Arbeitsmarkt verhindert. Zudem sank die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen durch das Betreuungsgeld erheblich. In Finnland hatten Mütter nach ihrer Auszeit gehäuft mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen. In Norwegen und Schweden hatte das Betreuungsgeld ins-besondere bei Frauen mit Migrationshintergrund negative Auswirkungen auf die Beschäftigung.

Das Betreuungsgeld hat keine gesellschaftliche Mehrheit. 76 Prozent der Deutschen lehnen das Betreuungsgeld ab. Aus ihrer Sicht sollte das Geld für den Kitaausbau verwandt werden.

Auch wenn damit nicht die von Ihnen erhoffte Zustimmung des Betreuungsgeldes einhergeht, hoffe ich, dass Sie meinen und den Standpunkt der SPD-Bundestagsfraktion nachvollziehen können.

Mit freundlichen Grüßen

Rita Schwarzelühr-Sutter

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