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Lothar Binding
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Frage von Volkmar P. •

Frage an Lothar Binding von Volkmar P. bezüglich Umwelt

Sehr geehrter Herr Binding.

Wie kann es sein, dass der erlaubte Pegel, der die Grenze zur Lärm- und Ruhestörung festlegt, nicht für PERMANENTES KIRCHENGELÄUT gilt?

Zum Beispiel: Voriges Jahr zu Sylvester habe ich auf dem mdr Beethovens Neunte gehört (und gesehen). Mitten in einem ruhigen Teil der Sinfonie fingen die Kirchenglocken so laut zu läuten, dass ich nichts, aber auch gar nichts mehr verstand! Sonntag morgens ist es so laut, dass man wach wird.

Warum bekommt die Kirche solch eine Narrenfreiheit? Warum darf die Kirche bestimmen, ab welcher Uhrzeit Sonntags Veranstaltungen beginnen? Was kümmert es die Kirche, wann ein Autohaus ein Fest veranstaltet? Nur weil sie sichergehen will, dass erst einmal alle in die Kirche gehen??? Bevor sie eine Veranstaltung besuchen? Solch eine Bevormundung habe ich schon einmal erlebt. Zu DDR-Zeiten durch die Regierungspartei!

Warum steht in der Präambel "unserer" Übergangsverfassung das Wort GOTT? Ich denke wir sind ein religionsunabhängig? Was kann ich dafür tun, dass dieser Teil gestrichen wird. Denn solange dies hier steht, erkenne ich dieses Grundgesetzt nicht an. Zumal ich eine neue Verfassung erwarte!

Mit freundlichen Grüßen

Volkmar Prüfer

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Prüfer,

vielen Dank für Ihre Mail. Leider kann ich zu einigen Ihrer Bemerkungen wie den Veranstaltungen im Autohaus keine Stellung nehmen, da mir der Zusammenhang nicht bekannt ist. Nach meiner Einschätzung berühren Ihre Fragen allerdings wichtige Aspekte des Verhältnisses von Kirche und Staat, Religion und Politik. Diese Beziehungen waren selten konfliktfrei, wie der Blick in die eigene und die europäische Vergangenheit zeigt. Diese Konflikte wurden in verschiedenen Gesellschaften und Zeiten unterschiedlich zu regeln versucht.

Unsere Verfassung gebietet staatliche Neutralität hinsichtlich des persönlichen Bekenntnisses jedes einzelnen Bürgers sowie in weltanschaulichen und religiösen Fragen im Allgemeinen. Sie verbietet die Bevorzugung oder Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern aufgrund ihrer religiösen Überzeugung.

Neutralität des Staates ist dabei allerdings nicht als vollständige Trennung der Sphären von Religion und Politik zu verstehen. Vielmehr herrschen im gesellschaftlichen Leben eine Vielzahl sogenannter „gemischte Verhältnisse“ zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften einerseits und den staatlichen Ebenen ­von Bund und Länder andererseits vor. Ich denke dabei etwa an Religionsunterricht in staatlichen Schulen, an die Kirchensteuer, an die Achtung kirchlicher Feiertage durch den Staat, oder die kirchliche Seelsorge in Gefängnissen, bei der Polizei oder der Bundeswehr. Diese Beziehungen sowie die Grundlinien im Verhältnis zwischen Staat und Kirche – etwa die Garantie der Religionsfreiheit, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, die Zusicherung staatlicher Leistungen für Kirchen – sind in sog. Konkordaten oder Staatskirchenverträgen festgelegt.

Generell halte ich dieses Zusammenwirken von Staat und Kirche in vielen Bereichen für sinnvoll und notwendig. Denn insbesondere die christlichen Kirchen haben eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft: ich denke an ihre umfangreiche sozialkaritative Arbeit oder an das freiwillige ehrenamtliche Engagement der Gemeindemitglieder. Der Glaube ist zugleich aber auch fester Bestandteil des Wertefundaments unserer Gesellschaft. Deshalb flossen auch religiöse Werte und ein expliziter Gottesbezug in die Verfassung ein. Ich halte dies für richtig. Zugleich unterstreiche ich allerdings nachdrücklich, dass diese Vorstellungen für die Begründung meiner politischen Wertorientierung und der vieler anderer Menschen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Menschen- und Bürgerrechte, Staatszielbestimmungen und Werte wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit etc. lassen sich etwa auch aus dem Gedankengut der Aufklärung und des philosophischen Rationalismus erschließen und weiterentwickeln.

Die Abgrenzung zwischen dem Bereich des Politischen, des Religiösen und des Privaten sind bisweilen schwierig und nicht frei von Widerspruch und Kritik. Auch Ihre Frage zur Lärmbelästigung durch Glockengeläut von Kirchen in Wohngebieten war schon Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen liturgischem Läuten – etwa der Ankündigung eines Gottesdienstes – und dem Zeitläuten zu beachten. Letzteres ist nicht durch die Freiheit der Religionsausübung gedeckt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass liturgisches Glockengeläute im herkömmlichen Rahmen regelmäßig keine erhebliche Belästigung, sondern eine zumutbare, sozialadäquate Einrichtung darstelle (BVerwG 02.09.1996 - 4 B 152/96). Im Einzelfall muss dabei geprüft werden, ob eine Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Immissionen erzeugt, die die Gesundheit schädigen oder in das Eigentum eingreifen.

Das Zeitschlagen von Kirchturmuhren in der Nachtzeit von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens unterliegt hingegen grundsätzlich den allgemein geltenden Anforderungen des Immissionsschutzrechts. Dies bedeutet, dass Einzelgeräusche von mehr als 60dB(A) nachts in Wohngebieten nicht zulässig sind (BVerwG, Urteil vom 30.04.1992 - 7 C 25/91, NJW 1992, 2779).

Jenseits dieser juristischen Aspekte würde ich mir wünschen, dass sich diese und ähnliche Konflikte mit mehr Toleranz und wechselseitigem Respekt lösen ließen, die für ein verträgliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar sind. Für den einen stellt Glockengeläut Lärmbelästigung dar, für die andere sind der Besuch von Gottesdiensten und das Engagement in der Kirchengemeinde Teil ihrer Vorstellungen eines sinnvollen Lebens. Ein Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen sollte unter vernunftbegabten Personen machbar sein.

Sie fordern abschließend die Streichung des Gottesbezugs aus dem Grundgesetz und verweigern ihm aus diesem Grund sogar die Anerkennung. Nach meiner eigenen Bewertung ist diese Haltung in der Frage der persönlichen Akzeptanz des Grundgesetzes und unseres politischen Systems allerdings zu kompromisslos. Ich stelle mir in Gesprächen oder Briefwechseln, in denen in ähnlicher Weise komplette Gesetze oder Verträge aufgrund einer einzigen Regelung im Gesetzestext abgelehnt werden, häufig die Frage, ob Dissens im Einzelfall die Verweigerung des Konsenses im Allgemeinen rechtfertigen kann.

Sie „erwarten eine neue Verfassung“. Aber warum nur warten? Ich möchte Sie vielmehr ermuntern, sich persönlich in Bürgerbewegungen, Vereinen oder Parteien für politische Veränderungen zu engagieren und Argumente für eine Änderung der Verfassung zu prüfen.

Ich hoffe, Ihre Frage konstruktiv aufgegriffen zu haben, und verbleibe

mit freundlichem Gruß, Lothar Binding.