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Frage von Heike R. •

Frage an Lothar Binding von Heike R. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Herr Binding,

Deutschland ist bei der Belastung von Steuern- und Abgaben Vize-Weltmeister. Nur in Belgien müssten Arbeitnehmer mehr von ihrem Gehalt an den Fiskus abführen.
quelle: https://www.wiwo.de/politik/deutschland/hohe-belastung-deutsche-muessen-weltweit-fast-die-meisten-steuern-zahlen/21217262.html
Warum ist dem so? Wie rechtfertigt die Regierung dies? Warum handelt die Regierung hier vorsätzlich gegen die Interessen der Betroffenen, was ich persönlich so sehe?
Warum gibt es in der GroKo keinerlei Bereitschaft die breite Mitte des Landes wirklich spürbar zu entlasten?

Mit freundlichem Gruß
Dr.med. Heike Rogall

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Sehr geehrte Frau Dr. Rogall,

vielen Dank für Ihre Frage zur OECD-Studie "Taxing Wages" 2018. Sie zitieren den Artikel in der WiWo korrekt. Die Wirtschaftswoche dagegen berichtet in dem Artikel "Deutsche müssen weltweit fast die meisten Steuern zahlen" nicht korrekt über die Studie, denn die Autoren sitzen dabei einem beliebten Fehler auf: der mangelhaften Differenzierung oder gar der Gleichsetzung von Steuern und Abgaben. Ein Vergleich der Einkommensbelastung durch Steuern und Sozialbeiträge bzw. Sozialabgaben in verschiedenen Ländern wird schnell falsch, wenn nicht korrekt zwischen Steuern und Abgaben unterschieden wird. Zusätzlich muss stets hinterfragt werden, ob die jeweiligen Bemessungsgrundlagen identisch sind. Wir sagen ja auch nicht, dass zwei Zimmer gleich groß sind, weil sie die gleiche Breite haben – stets gilt es auch die Länge in den Blick zu nehmen.

Es kommen noch die systematischen Unterschiede zwischen Abgaben und Steuern hinzu, die im Ländervergleich die tatsächlichen Verhältnisse bis zur Unkenntlichkeit verwischen: So sind die direkten Steuern in Deutschland einigermaßen gerecht, weil sie progressiv angelegt sind, die Abgaben dagegen sind regressiv durch die Beitragsbemessungsgrenze, die Pflichtversicherungsgrenze und weil in der Rentenversicherung, der Kranken- und Pflegeversicherung und auch der Arbeitslosenversicherung jeweils konstante Prozentsätze vom Einkommen an die Versicherungen zu bezahlen sind.

Die Überschrift des Artikels lautet wie gesagt: "Deutsche müssen weltweit fast die meisten Steuern zahlen". So formuliert, führt dies zu falschen Schlussfolgerungen und stellenweise zu berechtigtem Unmut bei den Leserinnen und Lesern. Ich möchte meine Kritik näher erläutern.

Die OECD vergleicht in ihrer Studie, in welchem Umfang sich Brutto-Arbeitseinkommen durch Einkommensteuer und Sozialbeiträge von den Nettoeinkommen unterscheiden. Verglichen werden 35 ausgewählte OECD-Staaten, wie unter anderem USA, Frankreich, Deutschland oder Chile. Damit gibt die Studie eine gute Übersicht über die durchschnittliche Gesamtbelastung, durch Steuern und Sozialabgaben zusammen betrachtet. Das ist zunächst gut, denn oft interessiert uns ja einfach unser Nettoeinkommen. Außerdem verrät uns die Studie die sogenannte "marginale" Belastung von Arbeitseinkommen, also welche Abzüge es vom "jeweils nächsten Euro" gibt.

Allerdings muss bei diesem Vergleich bedacht werden, dass viele Sozialversicherungssysteme der Staaten nicht immer vergleichbar sind. Und genau dieser Punkt ist maßgeblich für die Interpretation der Ergebnisse. Denn auch wenn in einem Land das Netto nach obiger Betrachtung ziemlich hoch, also die Steuern und Sozialabgaben oder beides ziemlich gering ist, kann es aber sein, dass schon nach einer kleinen Operation oder der Notwendigkeit über einen längeren Zeitraum Medikamente zu benötigen, das Netto empfindlich schrumpft, weil eben die Krankenkasse zwar billig ist, dafür aber auch kaum Kosten im Krankheitsfall übernimmt. Werden solche Effekte in Zeitungsartikeln nicht erwähnt, ist ihr Informationsgehalt bedenklich, eigentlich ohne Wert.

Darüber hinaus vergleicht die Studie einmal die Belastung von Single-Haushalten und einmal die Belastung von Ehepaaren mit Kindern, was ebenfalls zu unterschiedlichen Ergebnissen in den einzelnen Staaten führt.

Betrachten wir lediglich die Belastung der Einkommen durch die Steuer (für Singles), so liegt Deutschland nicht mehr in der Spitzengruppe, sondern im langweiligen Mittelfeld. Die durchschnittliche Einkommensteuerbelastung beträgt in Deutschland 19,1% und liegt damit dicht am OECD-Durchschnitt von 15,7%.

Bei den Sozialbeiträgen sieht es anders aus. Der durchschnittliche Anteil für Arbeitnehmer (Single) liegt in Deutschland bei 20,8% des Bruttoeinkommens. Im Durchschnitt der beteiligten OECD-Staaten beläuft sich der Wert hingegen auf 9,8%. Sozialbeiträge sind jedoch keine Steuern, sondern Versicherungsbeiträge. Das bedeutet, dass den Zahlungen auch konkrete Versicherungsleistungen (ein individueller Anspruch) gegenüber stehen. Genau diese sind in den betrachteten Ländern höchst unterschiedlich. So bezahlen Arbeitnehmer in den USA oder in Großbritannien nur 7,7% bzw. 9,4% ihres Bruttoeinkommens für ihren Anteil an den Sozialbeiträgen. Dafür müssen die Arbeitnehmer in diesen Staaten in einem wesentlich höheren Umfang privat vorsorgen. In Mexiko beläuft sich der Arbeitnehmeranteil sogar nur auf 1,4%, allerdings können wir uns leicht vorstellen wie groß die Unterschiede in den Versicherungsleistungen im Vergleich mit Deutschland sind. Wenn Sie Staaten mit einem ähnlichen Sozialsystem wie Deutschland betrachten (z.B. Österreich, Schweden oder Dänemark), sehen Sie ganz ähnliche Werte bei der Gesamtbelastung wie in Deutschland.

Weil die Studie die unterschiedliche Qualität der Sozialsysteme nicht berücksichtigt, vergleicht sie letztlich Unvergleichbares, jedenfalls so lange darauf verzichtet wird, die Details zu betrachten.

Sie sind Medizinerin. Wenn Sie also z.B. sehen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den USA im Durchschnitt nur 26% ihres Bruttoeinkommens für Steuern und Abgaben aufwenden, denken Sie bitte auch an die Situation der Krankenversicherung dort. Viele Amerikaner können sich überhaupt keine ordentliche Versicherung leisten und sind auf ehrenamtlich tätige Mediziner angewiesen. Oft fallen auch einigermaßen gut situierte Familien in Armut, sobald ein Familienmitglied ein ernsteres gesundheitliches Problem hat.

Bei der Einkommensteuer lässt die Studie die verschiedenen Abzugsmöglichkeiten unberücksichtigt. So können in Deutschland bspw. Werbungskosten, Pendlerpauschale, doppelte Haushaltsführung oder Spenden steuermindernd angerechnet werden. Die Belastung durch andere Steuern, wie z.B. Kapitalertragsteuer oder indirekte Steuern (wirken auch regressiv) werden ebenfalls nicht betrachtet.

Im Endeffekt lässt die Studie keinen Vergleich der gesamten Steuer- und Abgabenbelastung und der öffentlichen Leistungen in den ausgewählten OECD-Staaten zu. Die Wirtschaftswoche – auch die FDP oder bestimmte marketingstarken Lobbyverbände – vernachlässigen dies aber recht ungeniert und propagieren: Die Deutschen sind Vize-Weltmeister im Steuerzahlen. Wie Sie gesehen haben, ist dies aber falsch.

Nun können sich viele Menschen mit diesen Fragen nicht so intensiv beschäftigen, sie haben ihre eigenen Berufe… Umso wichtiger ist es, dass in seriösen Medien von guten Journalisten die Ergebnisse verständlich und korrekt dargestellt werden.

Eilfertigen Rufen nach Steuersenkungen und einem schlanken Staat setze ich gern einen differenzierten Blick auf die Wirklichkeit entgegen.

Leider gibt es auch Deutschland Armut –sie hat natürlich andere Ursachen als Steuern oder Abgaben. Das wäre ein neues wichtiges Thema. Ich gratuliere stets zu hohen Steuerzahlungen, denn das ist ein gutes Zeichen für hohe Einkommen. Je mehr Steuern jemand bezahlt umso besser geht es ihr oder ihm.

Und ganz persönlich: Wenn Sie mich fragten, wo ich lieber leben möchte? In Deutschland mit den ach so hohen "Abzügen" oder anderswo mit dem so tollen Netto (ein Stück mehr "Freiheit"), dann ist meine Antwort schon gegeben.

Mit freundlichen Grüßen, Ihr Lothar Binding