Haben Sie sich einmal mit der Wendezeit 1989 befasst und welche Rolle die Menschen der Kirchen dabei spielten?
Sehr geehrte Frau Klöckner, ich möchte Ihnen ja nicht zu Nahe treten, doch ist es nicht die Aufgabe der Christen sich einzumischen? Um Frieden zu bitten und zu beten? Ich verstehe Ihre Forderung nicht! Hätten sich die Kirchen in der DDR nicht in die Tagespolitik eingemischt, wäre es uns nicht mit der friedlichen Revolution gelungen. Nur dadurch konnte die Bevölkerung ein Blutvergießen verhindern und die friedliche Revolution gelingen. Es ist die Aufgabe des Christen sich einzumischen und auf Missstände aufmerksam zu machen. oder sind Sie der Meinung, dass es von Jesus falsch war, sich an den Rand der Gesellschaft zu begeben, zu den Aussätzigen, Hungernden etc.?
Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, weil er sich eingemischt hat starb er!
Wollen Sie, dass die Christen schweigen und die Tagespolitik einfach abnicken?
Kann nicht die Aufgabe der Kirche sein!
Sehr geehrter Herr T.,
danke für Ihre Frage. Da Sie sich auf meine Aufgaben als Bundestagspräsidentin beziehen, antworte ich Ihnen nicht in meiner Funktion als Abgeordnete, sondern als Vertreterin des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag und der Gesamtheit seiner Mitglieder sowie dank der Zuarbeit der Bundestagsverwaltung:
Ich freue mich über die lebendige Debatte, die ich angestoßen habe. Im Übrigen aus der Kirche heraus und nicht nur in die Kirche hinein. Denn ich selbst bin Teil der katholischen Kirche. Diese Debatte zu führen, kann eine Chance für viele Seiten sein. Mir liegt viel an der Kirche, und gerade deshalb war mir schon immer auch die kritische Auseinandersetzung mit ihr wichtig. Dabei gilt für mich auch als aktives Kirchenmitglied, dass die Kirche ebenso wenig vor Kritik gefeit sein kann, wie die Kritik einer Bundestagspräsidentin an der Kirche geteilt werden muss.
Es ist das Recht der Kirchen unbequem zu sein, gerade gegenüber der Politik. Das setzt voraus, dass sie es sich selbst nicht bequem macht. Diese Sätze sind nicht von mir, sie stammen aus dem Jahr 2021 von meinem verstorbenen Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble.
Eine Stellungnahme zum Tempolimit ist eine tagespolitische und schnell geschriebene Positionierung. Ich suchte in der Vergangenheit zum Teil solche Positionierungen bei der Abschaffung des Paragrafen 219a oder des Paragrafen 218. Dort geht es um Grundfragen des Lebens, zu denen ich die Stimme meiner Kirche lauter vermuten würde. Oder bei der Frage, was es für Menschen mit dem Downsyndrom oder ungeborenes Leben bedeutet, wenn die nicht-invasiven Pränataltests auf Trisomie 21 zu einer Kassenleistung werden.
Aber während in der Politik darüber diskutiert wurde, fehlte die Positionierung der Kirchen hierzu oder war einfach leise und zurückhaltend. Man gewann den Eindruck, das lag daran, dass gewisse von der Kirche erwartete Positionen nicht ganz der öffentlichen Meinung und dem Zeitgeist entsprechen. Nicht zu leugnen ist, dass die Kirche immer mehr Mitglieder verliert. Das hat Gründe. Nach denen zu fragen und auf Ursachensuche zu gehen, ist legitim und notwendig. Das zeigen mir auch die vielen Rückmeldungen von kirchlichen Amtsträgern und Gläubigen, die sich diese breite gesellschaftliche Debatte sogar wünschen.
Unsere Gesellschaft ist weiterhin christlich geprägt, trotz Mitgliederschwund bei den Kirchen. Konfessionelle Schulen werden beispielsweise stark nachgefragt. Und gerade bei ethischen Fragen spielt das christliche Menschenbild immer wieder eine wichtige Rolle. In den Deutschen Ethikrat werden deshalb regelmäßig auch Theologen berufen und beraten dort die Politik. Die Kirche hat etwas zu sagen und ist gefragt, besonders weil sie mehr als Zeitgeist bietet. Und eben auch unterscheidbar zu Nichtregierungsorganisationen sein muss. Die sind wichtig und weltlich, gerne auch polarisierend. Aber Kirche ist doch mehr! Im Übrigen hat Papst Franziskus das auch bei seiner Begegnung mit argentinischen Jugendlichen im Jahre 2013 formuliert.
Die Kirchen verbinden – durch die Verkündigung einer versöhnenden und tragfähigen Botschaft. Auch wenn Religion immer politisch war, Politik und Religion unterscheiden sich grundlegend: Die Religion sucht nach Wahrheit, die Politik nach Mehrheiten – zumindest, wenn sie demokratisch sein möchte.
Verknüpfte man die kirchlichen Stellungnahmen zur Tagespolitik mit dem religiösen Wahrheitsanspruch, müsste ich dies als Bundestagspräsidentin schon aus sehr grundsätzlichen Überlegungen zurückweisen. Politik kann nicht mit absoluten Wahrheiten geführt werden. Wie schwierig das bei diesen Themen auch in Kirchenkreisen sein kann, zeigte die Debatte der Magdeburger Synode 2022 über ein Tempolimit: Die Entscheidung fiel nach langen Diskussionen – zunächst Tempo 100, schließlich ein Kompromiss von 120. Als jemand, der schon Kompromisse verhandelt hat, verstehe ich diesen Gang der Beratung vollkommen. Mit einem besonderen Geltungsanspruch kann diese Stellungnahme jedoch nicht verbunden sein.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Sie selbstverständlich die Möglichkeit haben, auch auf direktem Weg mit dem Deutschen Bundestag, seinen Abgeordneten oder mir als seiner Präsidentin Kontakt aufzunehmen. Zum Beispiel über: https://www.bundestag.de
Herzliche Grüße
Julia Klöckner