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Anton Hofreiter
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Michael H. •

Frage an Anton Hofreiter von Michael H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Hofreiter,

Auf http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/GrundgesetzGesetze/InformationenueberdasGrundgesetz/informationen-ueber-das-grundgesetz.html steht:

"Mit dem Vollzug der staatlichen Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ist das Grundgesetz durch die souveräne und bewusste Entscheidung der deutschen Bevölkerung zur gesamtdeutschen Verfassung geworden."

Im Grundgesetz besteht Artikel 146 jedoch weiterhin: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine
Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Und in Artikel 5 des EinigVtr:

Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere -in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, -in bezug auf die Möglichkeit einer Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 des Grundgesetzes durch Vereinbarung der beteiligten Länder, -mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie -"mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung."

Wenn wir keine Verfassung haben, wovon auszugehen ist, müsste es dann nicht korrekterweise so auf den Seiten des Bundestages stehen? Und müsste es dann nicht das Bestreben der Bundesregierung und des deutschen Volkes als Ganzes sein, sich "mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung"
auseinanderzusetzen?

Mit freundlichen Grüßen,

Michael Höhne

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Höhne,

vielen Dank für Ihre Frage, die darauf abzielt, ob das Grundgesetz Deutschlands eine Verfassung ist. Das am 23. Mai 1949 nach Zustimmung der Bundesländer in Kraft getretene Grundgesetz war zunächst als Übergangsverfassung bis zur Herstellung der deutschen Einheit gedacht. Es war aber inhaltlich nicht nur eine "Rumpfverfassung" und hat sich über Jahre und Jahrzehnte als voll gültige Verfassung in Deutschland bewährt. Das Grundgesetz regelt alles, was eine Verfassung regeln muss. Das "Provisorische" was dem Grundgesetz nach der Intention der Mütter und Väter des Grundgesetzes zunächst anhaftete, hat sich durch die Verfassungspraxis von nunmehr fast 60 Jahren ausgewachsen.
Was gegen das Verfahren beim Erlass des Grundgesetzes einzuwenden ist, bei dem das Volk nicht direkt beteiligt war, ist längst historisch überholt. Das Grundgesetz hat in den Wahlen zum Deutschen Bundestag nach dem 23. Mai 1949 eine so breite Unterstützung erhalten, die Zweifel an seiner Legitimität als Verfassung ausgeräumt haben.
Bündnis 90/Die Grünen hatten sich nach der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR dafür eingesetzt - wie es im Einigungsvertrag auch angelegt war - eine Volksabstimmung im vereinten Deutschland über eine neue Verfassung durchzuführen. Wie Sie wissen, ist es dazu jedoch nicht gekommen, da die Wiedervereinigung im Jahre 1990, nicht zu letzt wegen des großen Zeitdrucks, im Wege des Beitritts erfolgte.
Artikel 146 Grundgesetz in der Fassung, die er durch den Einigungsvertrag erhalten hat, hält weiterhin die Möglichkeit offen, eine Verfassung im Wege einer Volksabstimmung zu beschließen. Aus dieser Bestimmung zu schließen, dass das Grundgesetz nicht die Verfassung Deutschlands wäre, geht an der Verfassungswirklichkeit in Deutschland vorbei. Anstatt einen überkommenen Streit um Begriffe zu führen, setzen sich Bündnis 90/Die Grünen daher dafür ein, die freiheitlichen, demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Errungenschaften des Grundgesetzes zu verteidigen. Wo erforderlich setzen wir uns für Reformen des Grundgesetzes ein, wie z.B. durch die ausdrückliche Aufnahme des Datenschutzes ins Grundgesetz. Damit das Grundgesetz auch weiterhin eine gute Verfassung für Deutschland bleibt.

Mit freundlichen Grüßen

Dipl.-Ing. Udo Werner

Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Dr. Anton Hofreiter MdB

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