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Anton Hofreiter
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Andreas H. •

Frage an Anton Hofreiter von Andreas H. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Dr. Hofreiter,

lt. Aussage von Frau Katja Kipping, Arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Linken, verweigert die Bundesspitze der Partei Bündnis 90 / Die Grünen die Unterstützung der Einreichung einer Normenkontrollklage zur verfassungsrechtlichen Überprüfung der Hartz IV Regelsätze.

Ist diese Aussage richtig?
Wie ist Ihre Meinung zur Verweigerungshaltung der Bundesspitze?

Mit freundlichen Grüßen
Andreas Held

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Held,

Selbstgenügsam und selbstgerecht: Die Fraktion „Die Linke“ im Deutschen Bundestag und ihre Bemühungen, eine Normenkontrollklage gegen die Neufestsetzung der Regelbedarfe auf den Weg zu bringen.

Am 9. Februar 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fest, dass bei der Ermittlung der Regelbedarfe im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sowohl Artikel 1 des Grundgesetzes (Menschenwürde) als auch Artikel 20 GG (Sozialstaatsgebot) nicht hinreichend beachtet wurde. Die Höhe des Arbeitslosengelds II (ALG II) sei nicht transparent, gar willkürlich berechnet worden. Dies war zweifellos eine herbe Abreibung gerade auch für die SPD und Bündnis 90/Die Grünen, in deren Regierungsverantwortung die Festsetzung der Regelsätze fällt. Umso sorgfältiger begaben sich die Grünen zum Jahreswechsel 2010/2011 in das Vermittlungsverfahren zum Gesetz zur Neufestsetzung der Regelbedarfe – zumal nach 2005 die grüne Partei und Fraktion selbstkritisch Fehler bei den so genannten „Hartz-Reformen“ zugegeben hatte. Ein Parteitag im Jahr 2007 kritisierte im Rahmen einer Rückschau auf die rot-grüne Regierungszeit ausdrücklich auch die Höhe der Regelsätze.

Am Ende eines langen Vermittlungsverfahrens hatten Bündnis 90/Die Grünen auch gegenüber der Neuberechnung der Regelsätze durch die schwarz-gelbe Bundesregierung große verfassungsrechtliche Bedenken. Zu rigoros wurde an mehreren Stellschrauben gedreht, um den Betrag künstlich herunter zu rechnen. Insbesondere eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nach den aktuellen Monatsbeträgen kaum möglich: Ob Strom, Monatskarte oder Internet, überall müssen Hilfeempfänger draufzahlen. In keinem einzigen Punkt war die schwarz-gelbe Koalition zu Zugeständnissen bereit. Bündnis 90/Die Grünen hatten daher dem neuen Regelsatz im Bundesrat und Bundestag die Zustimmung verweigert.

Mit den verfassungsrechtlichen Bedenken stand dann die Möglichkeit einer so genannten Normenkontrollklage (NKL) vor dem BVerfG im Raum. Um diese einzureichen bedarf es aber der Unterschriften von mindestens 25 % der Mitglieder des Deutschen Bundestags und damit einer Zusammenarbeit mit der SPD, da Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion „Die Linke“ zusammen das Quorum nicht erreichen. Da die SPD allerdings dem neuen Verfahren zur Regelsatzermittlung zugestimmt hatte, wäre besonderes politisches Fingerspitzengefühl angebracht gewesen, um der SPD-Fraktion trotzdem eine halbwegs gesichtswahrende Teilnahme an einer NKL zu ermöglichen. Nun ist es beileibe nicht die Aufgabe der politischen Konkurrenz (schon gar nicht der Linken), der SPD eine besondere Schonung zuteilwerden zu lassen. Aber: Wenn man in der Sache etwas hätte erreichen wollen, hätte man unter Hintanstellung eigener kurzfristiger Positions- und Imagegewinne einen vertraulichen kooperativen Weg gehen müssen.

Genau dies hat die Linkspartei bewusst nicht getan: Unmittelbar nach der Einigung von CDU/CSU, FDP und SPD posaunte Gregor Gysi am 22.02.2011 heraus, jetzt wolle „Die Linke“ eine Normenkontrollklage und die anderen Parteien schlössen sich dem hoffentlich an. Da konnte die Parteivize Katja Kipping nicht nachstehen und erhob öffentlich die Forderung nach einer NKL am 23.02.2011. Dagmar Enkelmann schaffte das richtige Verhandlungsklima mit den Sozialdemokraten und sprach am selben Tag von einem „zynischem Vergehen“, dem die SPD die Hand reiche. Gleichermaßen griff Gesine Lötzsch am 26.02.2011 nach öffentlich geäußerten Zweifeln von SPD-Spitzenpolitikern an der Verfassungsmäßigkeit die SPD frontal an („SPD will sich aus der Verantwortung stehlen“) anstatt genau dieses leise Eingeständnis zum Anlass zu nehmen, in Ruhe das Gespräch zu suchen. Und nach diesem medialen Getöse schickte Gregor Gysi scheinheilig einen Brief an die Fraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen und bat um Unterstützung für eine Normenkontrollklage. Gysis Kalkül ging so: Würden sich die anderen Oppositionsfraktionen darauf einlassen, hätte man von Seiten der Linkspartei die Botschaft senden können: „Die anderen Parteien sind uns gefolgt; wir sind die treibende Kraft.“ Lassen sich SPD und Grüne auf das solchermaßen vergiftete Scheinangebot nicht ein, kann man sagen: „Die anderen Parteien setzen sich gar nicht wirklich für Hartz IV-Beziehende ein; wir sind die einzigen Kämpfer für die Armen.“

Es ging also von vorneherein darum, so oder so die konkurrierenden Oppositionsfraktionen zu düpieren. In der Sache gab es nach meiner Ansicht kein ernsthaftes Interesse an Zusammenarbeit. Die tatsächlichen Probleme der ALG II-Beziehenden waren faktisch nur Mittel zum Zweck der politischen Abgrenzung gewesen. In gewisser Weise ist das Verhalten der Linkspartei erklärbar: Diese trieb und treibt die Sorge um, ihr Selbstbild als (einzige) Schutzpartei für Hartz IV-Empfänger könnte Schaden nehmen. Der energische Einsatz insbesondere der Grünen für korrekt berechnete und mithin höhere Regelsätze beunruhigt die Linkspartei spürbar – zumal Bündnis 90/Die Grünen auch ihre Glaubwürdigkeit in den Verhandlungen bewiesen, da sie dem mickrigen Kompromiss zwischen Regierungsfraktionen und SPD letztlich nicht zustimmten und die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss verließen. Da es in der inhaltlichen Bewertung der Regelsätze kaum Unterschiede zwischen Grünen und Linkspartei gibt, sucht man dort verzweifelt nach Vorwänden, um den Grünen ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen und findet sie in diesem Fall in der scheinheilig, mindestens aber ungeschickt vorgetragenen Forderung nach der Normenkontrollklage. Das ist Politik für die Galerie, aber nicht für die Betroffenen. Und weil der Linkspartei nichts Besseres einfällt, hat sie die Aufforderung nach der Normenkontrollklage im September wiederholt. Inzwischen liegt aber auch ein Verfahren des SG Oldenburg vor dem Bundessozialgericht (B 14 AS 131/11 R) und wird dem BVerfG vorgelegt werden. Ich habe die Hoffnung, dass im nächsten Jahr eine Entscheidung ergeht.

Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen konnte. Bei weiteren Fragen können Sie sich natürlich gerne an mich wenden.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Anton Hofreiter

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