Der Abgeordnete, der nur noch gegen Bezahlung redet

Bei sechs von elf wichtigen Abstimmungen hat der Abgeordnete Peer Steinbrück zuletzt gefehlt, öffentliche Bürgerfragen beantwortet er nicht und ans Rednerpult des Bundestags trat er in dieser Wahlperiode noch kein einziges Mal. Reden hält der Ex-Finanzminister inzwischen außerhalb des Parlaments – und gegen Bezahlung: Fast 100.000 Euro Honorar hat Steinbrück in den vergangenen Monaten für Vorträge kassiert, zusätzlich zu seiner Abgeordnetendiät.

von Martin Reyher, 26.05.2010

Man sollte gehen, wenn's am schönsten ist, sagt der Volksmund. Hätten sie doch bloß auf den Volksmund gehört, die Münteferings und Schmidts, die Steinbrücks und Glos'!

Saft- und kraftlos, so scheint es, sitzen die Minister a.D. statt dessen die aktuelle Wahlperiode als Abgeordnete auf den hinteren Parlamentsbänken ab. Öffentliche Antworten auf Bürgerfragen - Fehlanzeige. Reden im Bundestag - selten. Abwesenheit bei wichtigen Abstimmungen - häufig.

Dies trifft weitgehend auf die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (4 Fragen/keine Antwort, eine Parlamentsrede) und auf Ex-Arbeitsminister Franz Münterfering (2 Fragen/keine Antwort, keine Parlamentsrede, abwesend bei drei von elf wichtigen Abstimmungen) zu. Zum Vergleich: Ein "ganz normaler" Abgeordneter wie z.B. Norbert Barthle beantwortete im selben Zeitraum elf von 13 Bürgerfragen, hielt elf Reden und fehlte bei keiner einzigen wichtigen Abstimmung. Müntefering und Schmidt dagegen treten im Bundestag so gut wie gar nicht mehr in Erscheinung. Und auch außerhalb des Parlaments ist nicht mehr viel von ihnen zu hören.

Zumindest letzteres lässt sich von zwei anderen Ministern aus der Zeit der Großen Koalition nicht sagen, und das im doppelten Sinn:

  • Michael Glos (1 Frage/keine Antwort): Der gelernte Müllermeister ist inzwischen Berater des weltweit operierenden Finanzinvestors RHJ International SA (monatliche Einkünfte: "mehr als 7.000 Euro"). Außerdem berät er mit der Stolzmühle GmbH das eigene Familienunternehmen (jährlich Einkünfte: "mehr als 7.000 Euro") und sitzt in den Aufsichtsräten zweier Banken (jährliche Einkünfte: jeweils "mehr als 7.000 Euro"). In seiner Haupttätigkeit als Abgeordneter ist der ehemalige Wirtschaftsminister nicht so aktiv: Keine einzige Rede hat Glos seit September 2009 im Bundestag gehalten, bei sieben von elf wichtigen Abstimmungen fehlte er.
  • Peer Steinbrück (7 Fragen/keine Antwort): Seit der Bundestagswahl 2009 fehlte Steinbrück bei sechs von elf wichtigen Abstimmungen, ans Rednerpult trat er nicht ein einziges Mal. Reden hält der Ex-Finanzminister dagegen außerhalb des Parlaments - und gegen Bezahlung: In den vergangenen Monaten wurde Steinbrück für insgesamt 13 Vorträge gebucht (u.a. von der französischen Großbank BNP-Paribas). Das Gesamthonorar beläuft sich auf mindestens 91.000 Euro. Da Abgeordnete aber ihre Einkünfte gegenüber dem Bundestagspräsidenten nicht genau beziffern müssen - die Auskunft "mehr als 7.000 Euro pro Vortrag" reicht - könnten im Fall Steinbrück die Bezüge weitaus höher liegen.

Müntefering, Steinbrück, Schmidt, Glos - sie sind die Michael Schumachers der Politik: Jahrelang in der ersten Reihe gestanden und dann den richtigen Zeitpunkt für den Abgang verpasst. Nun sitzen sie wie Schumi nur noch auf den hinteren Plätzen (wenn sie denn am Start sind...) und beobachten, wie vorne die Entscheidungen fallen. Und weil die eigentliche Haupttätigkeit nicht tagesfüllend ist, bleibt noch Zeit für eine einträgliche Nebentätigkeit - hier mit Werbeverträgen (Schumacher), dort als Berater mit politischem Insiderwissen (Glos) oder als Profiredner (Steinbrück).

Es ist allerdings kein Naturgesetz, dass ein Minister a.D. in seiner vermutlich letzten Wahlperiode im Parlament nur noch teilnahmslos mittreibt, um sich im Nebenjob um so stärker zu engagieren. Die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries hat zwar bei fünf von elf Abstimmungen gefehlt, doch immerhin beantwortete sie bislang sechs von acht Bürgerfragen auf abgeordnetenwatch.de und ergriff im Bundestag zweimal das Wort. Eine bezahlte Nebentätigkeit hat Zypries nicht.

Auch vom ehemaligen Arbeits- und Verteidigungsminister Franz-Josef Jung haben die Bürger noch Antworten auf ihre Fragen zu erwarten (9 Fragen/4 Antworten). In dieser Wahlperiode fehlte Jung bislang nicht ein einziges Mal bei einer wichtigen Abstimmung. Auch er bezieht aktuell keine Einkünfte aus Nebentätigkeiten.

Andere Ex-Minister wie Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Olaf Scholz (als SPD-Landesvorsitzender in Hamburg) haben ein neues Betätigungsfeld in Partei und Fraktion gefunden. Sie stehen weiterhin in der ersten Reihe und sind entsprechend aktiv.

Wahrscheinlich spekulierten die meisten Minister der Großen Koalition darauf, nach der Bundestagswahl erneut ein Ministeramt zu übernehmen. Doch für manche kam es anders, und so mussten sie zwangsweise umschulen: Vom Wirtschaftsminister zum Mitglied des Auswärtigen Ausschusses (Glos), vom Arbeitsminister zum Fachmann für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Müntefering), von der Gesundheits- zur Kultur- und Medienexpertin (Ulla Schmidt).

Dass viele der Ex-Minister sich schon während ihrer aktiven Zeit einem öffentlichen Dialog mit den Bürgern verweigerten, macht die Sache nicht besser. Das Tragische ist: Hinter den müden Altpolitikern hätten weitaus jüngere Leute bereitgestanden, wahrscheinlich auch mit mehr Schwung und Elan. Franz Müntefering (Jahrgang 1940), Ulla Schmidt (1949) und Peer Steinbrück (1947) sind nur deshalb in den Bundestag eingezogen, weil sie über die NRW-Landesliste abgesichert waren. Hätten sie nach der verlorenen Bundestagswahl und ohne Aussicht auf ein neuerliches Ministeramt ihr Mandat zurückgegeben, wären Kerstin Griese (1966, letzte Wahlperiode: 209 Fragen/209 Antworten, 2009 nicht wiedergewählt), Wolfgang Hellmich (1958) und Ute Berg (1953, letzte Wahlperiode: 43 Fragen/42 Antworten, 2009 nicht wiedergewählt) zum Zug gekommen.

Dass über das Listenwahlsystem nicht immer die Engagiertesten im Parlament landen und dort die Interessen der Bürger vertreten, ist bekannt. Aber auch ein gewonnenes Direktmandat ist, das zeigt das Beispiel Glos, kein Garant für einen Abgeordneten, der sich für die Bürger richtig ins Zeug legt. Ihn könnte man zumindest abwählen...

Nachtrag von 20:15 Uhr: Welt online berichtet gerade, dass Peer Steinbrück für seine Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied bei ThyssenKrupp "ein fürstliches Gehalt zwischen 130.000 und 230.000 Euro" bezieht. In dem Artikel wird außerdem darauf hingewiesen, dass er als Finanzminister auch für staatliche Subventionen zuständig war.

 

Nachtrag vom 30.05.2010: Eine Bürgerin fragt Peer Steinbrück auf abgeordnetenwatch.de:

Wenn Ihnen die Arbeit im Deutschen Bundestag zu langweilig oder zu schlecht bezahlt ist, warum geben Sie Ihr Bundestagsmandat nicht zurück und machen einem (engagierten) Nachrücker Platz, der Zeit und Interesse für diesen Vollzeitjob hat? Es wäre beruhigend für alle schon zornig gewordenen Demokraten, wenn Sie der Öffentlichkeit hier an dieser Stelle wenigstens diese Frage beantworten würden.

 

Nachtrag vom 23.06.2010, 10:15 Uhr: Der Berliner Kurier und der Kölner Express berichten heute über den von abgeordnetenwatch.de aufgedeckten Fall Steinbrück. Das Hauptstadtblatt überschreibt den Artikel mit "Steinbrück redet sich steinreich", die Boulevardzeitung aus Köln titelt: "Politiker machen Kasse". In den ansonsten weitgehend wortgleichen Texten geht es auch um den ehemaligen Wirtschaftsminister Michael Glos. Der Journalist bat sowohl Steinbrück als auch Glos um eine Stellungnahme zu ihren parlamentarischen Aktivitäten - erfolglos. Im Express-Artikel heißt es:

Äußern wollen sie sich beide nicht. Peer Steinbrück lehnte eine Stellungnahme ab, Michael Glos ließ die Anfrage unbeantwortet.

 

Nachtrag vom 23.06.2010, 11:00 Uhr: Auch Handelsblatt online hat den Bericht des Berliner Kuriers über die Nebentätigkeiten des Finanzministers a.D. unter der Überschrift: "Als Experte gefragt: Steinbrücks lukrative Nebentätigkeiten" aufgegriffen. Auszug:

Seit dem Ende der großen Koalition ist von Steinbrück nicht mehr viel zu hören. Als Parlamentsredner fällt er nicht auf. Dafür hält er außerhalb des Plenums Vorträge wie geschnitten Brot.

 

Nachtrag vom 24.06.2010, 09:45 Uhr: Inzwischen macht Peer Steinbrück mit seiner Arbeitsbilanz im Deutschen Bundestag auch in der Schweiz Schlagzeilen. Das Boulevardblatt Blick, mit einer Auflage von 230.000 die zweitgrößte Zeitung des Landes, rechnet in ihrer heutigen Ausgabe mit "Peitschen-Peer" ab. Steinbrück und die Schweiz - das hat eine Vorgeschichte:

Peer Steinbrück peinigte die Schweiz in seiner Zeit als Finanzminister Deutschlands mit immer neuen Verbal-Attacken: Erst wollte er die Peitsche schwingen gegen uns, dann drohte er, die Kavallerie gegen die Alpennindianer loszuschicken (...) Mit dem Ende der grossen Koalition verschwand Peitschen-Peer von der Politbühne. Seither kümmert er sich vor allem um sein eigenes Bankkonten. Er kassiert mit unzähligen öffentlichen Vorträgen fleissig ab – und schwänzt dafür seine Aufgaben als Bundestagsabgeordneter (...).

 

Nachtrag vom 24.06.2010, 14:50 Uhr: Der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele äußert sich im Handelsblatt zum Fall Steinbrück:

Ich halte es aber für einen Missbrauch des Mandats, wenn sich Leute wählen lassen und dann hauptsächlich hoch bezahlten anderen Tätigkeiten nachgehen. Dass Peer Steinbrück seit der Bundestagswahl für Vorträge tausende Euro kassiert hat, finde ich unanständig.

In dem Handelsblatt-Artikel heißt es weiter:

Grünen-Politiker Ströbele erklärte, Steinbrück sei mit seinen „lukrativen Nebentätigkeiten“ kein Einzelfall. „Es gibt immer wieder Fälle von Abgeordneten, die mit ihrem mandatswidrigen Verhalten Kopfschütteln auslösen“, sagte er. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht klar geregelt, dass der wesentliche Teil der Abgeordnetentätigkeit dem Mandat gewidmet werden müsse.

 

Nachtrag vom 24.06.2010, 17:10 Uhr: Jetzt berichtet auch die Nachrichtenagentur AFP unter Bezugnahme auf abgeordnetenwatch.de:

Im neuen Bundestag habe sich Steinbrück nach Angaben des Portals abgeordnetenwatch.de bislang kaum aktiv betätigt, hieß es in dem Bericht. So fehlte er bei zahlreichen namentlichen Abstimmungen. Stattdessen ging der frühere Minister einer regen Tätigkeit außerhalb des Bundestages nach.

 

Nachtrag vom 25.06.2010, 10:20 Uhr: Handelsblatt online berichtet heute unter der Überschrift "Politiker im Visier von Korruptionsexperten" erneut über den Fall Steinbrück und lässt Transparency Deutschland und den Bund der Steuerzahler zu Wort kommen:

Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency Deutschland hat Ex-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) wegen seiner lukrativen Vortrags-Tätigkeiten scharf kritisiert und Konsequenzen gefordert. „Man kann sich fragen, ob das Halten von Vorträgen zu politischen Fragen durch einen Abgeordneten, nicht zu seinen Aufgaben als Abgeordneter gehört und insofern unentgeltlich erfolgen sollte", sagte die Leiterin der Arbeitsgruppe Korruption in der Politik von Transprency, Marion Stein, Handelsblatt Online. (...) Auch der Bund der Steuerzahler äußerte sich kritisch zu Steinbrücks reger Vortragstätigkeit. Bundestagsabgeordnete dürften zwar vergütete Nebentätigkeiten wahrnehmen, sagte Verbandsgeschäftsführer Reiner Holznagel Handelsblatt Online. Diese müssten jedoch veröffentlicht werden und dürften nicht zu Lasten der Mandatspflichten des Abgeordneten gehen. „Fehlzeiten im Parlament zu Gunsten einer Nebentätigkeit sind inakzeptabel“, betonte Holznagel.

Nachtrag vom 6.8.2010: Die im Text angesprochene Kerstin Griese ist inzwischen in den Bundestag eingezogen. Sie rückte für die Abgeordnete Angelica Schwall-Düren nach, die als Europaministerin in die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen wechselte.