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Verena Osgyan
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Christian R. •

Frage an Verena Osgyan von Christian R. bezüglich Staat und Verwaltung

Sehr geehrte Frau Abgeordnete Osgyan!

Wir stehen vor einer großen Herausforderung und erleben derzeit die massivsten Grundrechtseingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik. Deswegen treibt viele, auch ich, neben den gesundheitlichen Sorgen auch die Sorge um die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung und die Zukunft unserer Gesellschaft um. Alle nötigen Maßnahmen müssen nicht nur verhältnismäßig sein, sondern auch laufend kritisch überprüft und in einem Demokratie auch ausreichend legitimiert und kommuniziert werden. Als Landtagsabgeordneter, mithin als Vertreter des eigentlichen Souveräns stehen Sie hier in einer besonderen Verantwortung. Daher habe ich folgende Fragen an Sie:

1. Das RKI scheint derzeit die Politik zu bestimmen.
Frage: Werden neben dem RKI auch andere Experten zu Rate gezogen? Man hat zumindest nicht den Eindruck. Falls ja, welche anderen Experten werden gehört?
Der Chef des RKI, Prof. Wieler, hatte sich immerhin zu Beginn der Krise eine krasse Fehleinschätzung geleistet. Am 22. Januar sagte er in der Tagesschau, dass nur wenige Menschen von anderen Menschen angesteckt werden können“ sowie am gleichen Tag auf 3Sat: : „Insgesamt gehen wir davon aus, dass sich das Virus nicht sehr stark auf der Welt ausbreitet.“ (Quelle: https://www.merkur.de/welt/corona-rki-robert-koch-institut-hopkins-zahl…;) Auch jetzt arbeitet es mit Zahlen, die nicht valide sind. Es rät von einer Obduktion der Verstorbenen ab. (Quelle: https://meta.tagesschau.de/id/145479/rki-chef-wieler-zum-coronavirus-di…;)-
Wir wissen also nicht, wieviele Menschen tatsächlich dem Corona-Virus zum Opfer fallen.
Was fehlt ist eine Baseline oder Querschnittsstudie. Wieso wird diese nicht mit Nachdruck verfolgt? Denn nur auf Basis solcher Daten kann man die richtigen Entscheidungen treffen.

2. Die Politik kommuniziert nicht ausreichend und begründet ihre Entscheidungen. Wie die FAZ richtig schreibt (siehe https://zeitung.faz.net/faz/politik/2020-04-02/5fdc6dbc9932cac7a4e584f8…;).
Frage: Welche Experten werden gehört, welche Vorschläge gibt es und wieso entscheidet man sich für diese Maßnahmen und für andere nicht?
Frage: Sind Sie mit der Kommunikation der Staatsregierung einverstanden? Erscheint Ihnen diese ausreichend?
Frage: Helmut Schmidt hatte zu RAF-Zeiten auch die Opposition in alle Entscheidungen umfassend miteingebunden. Auch in NRW soll die so gehandhabt werden. Wie werden Sie als Opposition in die Entscheidungsprozesse der Staatsregierung eingebunden?

3. Auch die jetzigen Maßnahmen haben Opfer, wirtschaftliche aber auch medizinische. Ja, es gibt Erkrankte und Tote durch die jetzt bestehenden Maßnahmen.
Frage: Sind die "Kollaterlopfer" der getroffenen Maßnahmen im Blick? Sind Ihnen Zahlen über Todesopfer und zunehmende Suizide, sowie zunehmende Krankheiten bekannt? Ist Ihnen die Zunahme häuslicher Gewalt bekannt?
Nicht wenige Mediziner und Psychologen warnen, diese Opfer können rasch die Zahl der Corona-Toten übersteigen. Wird das ausreichend abgewogen und auch gemessen?

4. Ein Plan, eine Strategie sind derzeit nicht erkennbar. Eine Strategie benötigt konkrete Ziele, die erreichbar und meßbar sein müssen.
Frage: Welche Strategie wird derzeit verfolgt?
In einem ersten Schritt mögen Notfallmaßnahmen getroffen werden müssen. Dann aber muß eine Strategie entwickelt und kommuniziert werden. Dazu gehört auch eine Exit-Strategie, wie sie MP Laschet als einziger zur Recht anmahnt. Er wird aber ständig niedergebügelt mit dem Hinweis, nun sei nicht der Zeitpunkt für einen Exit. Dabei fordert er gar keinen Zeitpunkt, sondern einen Plan. Hat er da nicht recht?

5. Unsere Grundordnung ist diversen Angriffen ausgesetzt.
Frage: In Bayern darf den Gesundheitsnotstand die Regierung allein, ohne Anhörung des Parlamentes erklären. In anderen Bundesländern jedoch nicht.
Frage: Habe Sie dem zugestimmt?
Frage: Ist diese Vorgehen kein Verstoß gegen des Parlamentsvorbehalt?
Frage: Finden Sie es verfassungsrechtlich richtig, Grundrechtseinschränkungen, noch dazu auf unbestimmte Zeit und derart umfassend, allein auf dem Wege von Verordnungen und Allgemeinverfügungen anordnen zu können?

6. Derzeit darf man seinen Hund Gassi führen, Lebensmittel einkaufen und Joggen gehen, auch die Sendung Big Brother darf weiterlaufen, bei der fremde Leute auf engem Raum eingesperrt sind. Ja, man darf auch arbeiten und sich dicht an dicht im Nahverkehr zur Arbeit bewegen. Man darf aber nicht für die Grundrechte demonstrieren, selbst mit Sicherheitsabstand nicht. Man darf auch nicht ungestört seine Religion ausüben.
Frage: Erkennen Sie eine Willkür im Erlaubten und Verbotenen?
Frage: Ist die Versammlungsfreiheit für Sie ein ebenso triftiger Grund, wie das Gassiführen eines Hundes? Falls ja, wieso ist eine Demo, bei der der Sicherheitsabstand eingehalten würde, derzeit nicht erlaubt?
Frage: Wieso haben Buchhandlungen und Bibliotheken geschlossen? Der PEN-Club weist zurecht darauf hin, wie wichtig der Zugang zu Büchern und Zeitschriften in einer Demokratie ist. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?

7. In Bayern wurden die Schulen nach den Faschingsferien, in welchen viele Familien in den Risikogebieten in Österreich, Italien und der Schweiz waren, noch für 14 Tage offengelassen und dann erst geschlossen.
Frage: Hat man damit Ansteckungen billigend in Kauf genommen und die Lage falsch eingeschätzt? Oder verfolgte man zu dieser Zeit noch die Strategie der Herdenimmunität?

Vielen Dank vorab für die Beantwortung der Fragen
Christian Rechholz

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Guten Tag Herr Rechholz,

vielen Dank für Ihre Anfrage. In der Tat ist es im Moment wichtig, alle Maßnahmen abzuwägen und sie so auszutarieren, dass Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte miteinander im Einklang stehen. Oftmals ist das eine Gratwanderung. Alles in allem sind die derzeitigen Maßnahmen in unseren Augen gerechtfertigt, da es derzeit notwendig ist, die Infektionskurve abzuflachen, um hier Menschenleben zu schützen. Ich erlaube mir, auf Ihre einzelnen Punkte näher einzugehen:

zu 1) Das RKI ist eine eigene Forschungseinrichtung des Bundes, die genau zu dem Zweck geschaffen wurde, die Bundesregierung in medizinischen Fragen zu beraten. In Fällen wie diesem ist es DIE Forschungseinrichtung, die verlässliche und vergleichbare Daten liefert. Gerade zu Anfang der Pandemie (Sie zitieren eine Aussage, die bereits zwei Monate alt ist) gab es noch widersprüchliche Informationen zu den Ausbreitungswegen des neuartigen Coronavirus. Da das Robert-Koch-Institut eine Bundeseinrichtung ist, habe ich keinen direkten Einblick in dessen Arbeit; doch soweit man den Informationen des RKI entnehmen kann, werden hier natürlich alle möglichen relevanten Quellen miteinbezogen. Querschnittstudien in dem Bereich sind derzeit bereits in Arbeit. Hier müssen wir auf die Ergebnisse warten, die sicher auch das RKI in seine Empfehlungen einbeziehen wird.
Die Länder haben eigene Expert*innenkommissionen, in die unterschiedliche Wissenschaftler*innen einbezogen werden. Auf Basis dessen müssen die politischen Entscheidungen getroffen werden.

Zu 2) Kommunikation ist – gerade in solchen Zeiten, in denen es auf das Verhalten von uns allen ankommt – sehr wichtig. Die Arbeit der Staatsregierung gegenüber der Öffentlichkeit bei der Kommunikation der Maßnahmen hätte besser laufen müssen (etwa seitens des Kultusministeriums bzgl. der Schulschließungen oder das Hin und Her bei der Diskussion um Maskenpflicht). Allerdings muss ich auch anerkennen, unter welchem enormen Zeitdruck hier gehandelt werden musste.
Der Spagat zwischen politischen Notwendigkeiten und Eingriffen in Grundrechte ist auch dank frühzeitiger Intervention von uns Grünen beispielsweise im Rahmen des neuen bayerischen Infektionsschutzgesetz weitgehend gelungen: In Bayern wurde die Landtagsopposition bei den aktuellen Gesetzgebungsprozessen im Vorfeld mitgenommen und wir konnten die Punkte, die uns wichtig waren, in den Gesetzgebungsprozess einbringen. Mehr dazu, können Sie in der Antwort auf Frage 5 nachlesen. Wir stehen in engem Austausch mit den Mitgliedern der Staatsregierung. In meinem Fachbereich habe ich die Anträge zur Corona-Krise statt nur über den parlamentarischen Weg auch direkt an die zuständigen Staatsminister weitergeleitet. Dort werden und wurden die Vorschläge auch ganz unbürokratisch in die Planungen miteinbezogen.

Zu 3) Danke, dass Sie auf die gesellschaftliche Dimension der massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens hinweisen. Diese Debatte ist wichtig! Gerade im Bereich der psychologischen Betreuung wurden Angebote ausgeweitet und in den vergangenen Wochen noch einmal breiter beworben. Das halte ich für sehr notwendig in diesen Zeiten. Was die Zahlen häuslicher Gewalt angeht, sehen wir leider aus China erschreckende Entwicklungen. Wir fordern seit Jahren den gezielten Ausbau von Frauenhausplätzen und thematisieren das Problem auch in Punkt 8 unseres 20-Punkte-Programms zur Corona-Krise als Sofortmaßnahme: https://www.gruene-fraktion-bayern.de/fileadmin/bayern/user_upload/download_dateien_2018/Anfragen_Antraege_Gutachten/2020/20300401_20PunkteGegenCorona.pdf

Zu 4) Die aktuelle Strategie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, die auch breit in der Bevölkerung kommuniziert wird, ist es, die Kurve abzuflachen und so Zeit zu gewinnen und unser Gesundheitssystem zu entlasten. Ein erstes Ziel wäre es nun, die Reproduktionszahl unter eins zu senken, um die weitere Ausbreitung deutlich zu verlangsamen. Laut derzeit in Deutschland und weltweit geltenden Pandemie-Strategien folgen auf die Containment-Phase, in der wir uns derzeit befinden, Protection- und Mitigation-Strategien, die dann erst vulnerable Gruppen besonders unter Schutz stellen und schließlich die gesellschaftlichen und medizinischen Folgen im Falle weiterer Ausbreitung abmildern sollen. Die Lage ist weiterhin ernst.

Zu 5) Anders als in dem ersten Entwurf der Staatsregierung zum Bayerischen Infektionsschutzgesetz stand, konnten wir in das endgültige Gesetz verhandeln, dass nicht der Ministerpräsident alleine, sondern das Kabinett den Gesundheitsnotstand ausruft. Auch konnten wir die wichtige Änderung einbringen, dass der Landtag jederzeit die Aufhebung des Gesundheitsnotstandes anordnen kann. Da Maßnahmen zu spät kommen können, wenn die Ladungsfrist des Landtagsplenums eingehalten werden muss (die Ladung muss drei Tage vor der Sitzung abgesendet werden), halte ich das für richtig, und habe dem zugestimmt. Es geht in diesem Fall um eine Grundrechtsabwägung im Notstandsfall, die das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und Leben garantiert. Die Bayerische Verfassung erlaubt Einschränkungen, wenn die „öffentliche Gesundheit“ dies zwingend erfordert, was im Moment leider der Fall ist. Die einschneidenden Maßnahmen müssen nach der Pandemie alle wieder zurückgenommen werden, darauf werden wir achten.

Zu 6) Über die Sinnhaftigkeit und auch den Unterhaltungswert der Sendung „Big Brother“ – gerade in Corona-Zeiten – kann man sicher trefflich streiten. Allerdings befindet sich der Drehort in Köln, so dass Sie die nordrhein-westfälische Landesregierung dazu befragen müssen.
In Bayern ist der Ausgang aus dem Haus grundsätzlich verboten. Es gibt lediglich Ausnahmetatbestände, die genau geregelt sind (also das Gegenteil von Willkür). Dabei hat man auf Grundbedürfnisse geachtet, zu denen der Erwerb von Lebensmitteln, das Ausführen eines Hundes, Sport im Freien (siehe oben zu psychische und körperliche Gesundheit) oder auch das Kaufen von Zeitschriften (das anders, als sie schreiben, erlaubt ist) gehören.

Zu 7) Weite Teile der Gebiete, die Sie nennen, waren damals noch nicht als Risikogebiete definiert, deswegen konnte man zu diesem Zeitpunkt schwerlich einen Handlungsbedarf ableiten. In den aktuelle Zeiten muss eine Lagebeurteilung ständig aktuell und von der Informationslage abhängig stattfinden. Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine ausreichenden Hinweise dafür, dass Schulschließungen notwendig seien oder Vorteile bringen würden. Diese Einschätzung hat sich in der Zwischenzeit geändert und die Staatsregierung hierauf reagiert.

Es ist unsere gemeinsame Verantwortung die Übertragung des Virus so zu verlangsamen, dass unser Gesundheitssystem nicht kollabiert und Menschenleben gerettet werden. Die aktuell geltenden Ausgangsbeschränkungen sind ein massiver Eingriff in unsere Grundrechte, aber notwendig.

Mit freundlichen Grüßen
Verena Osgyan

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