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Christian Hirte
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Frage von Sven R. •

Frage an Christian Hirte von Sven R. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Hirte

bezugnehmend auf Ihre Antwort zur Anfrage Herrn Billhardts nach engeren Beziehungen zu Rußland hätte ich an Sie die Frage, ob Sie die Politik der NATO nach dem Ende der Sowjetunion und dem Abzug der damals noch sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland und den osteuropäischen Staaten nicht auch als ein ständiges Vorrücken auf die Grenzen Rußlands sehen. Ich darf daran erinnern, daß der damaligen Sowjetunion unter Gorbatschow als Preis für die Einwilligung zur deutschen Einheit zugesagt wurde, die Grenzen der NATO auf den damaligen Geltungsbereich zu beschränken, und ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, wo sich diese Grenzen heute befinden.

Sind Sie angesichts des Aufbaus von amerikanischen Militärstützpunkten vor allem in den ehemaligenen zentralasiatischen Sowjetrepubliken und vor allem der Politik der Vereinigten Staaten, die primär auf eine Stärkung des eigenen Einflusses gerichtet ist, nicht ebenfalls der Meinung, daß Rußland eine solche Politik zwangsläufig als Einkreisung verstehen muß? Denn diese Politik folgt ja offensichtlich genau der Logik der Einflußsphären, auf die sich Rußland bezieht und welche Sie in Ihrer Antwort mit negativem Unterton darstellen. Besonders hinsichtlich der geplanten Stationierung eines sog. "Abwehrschildes" gegen eine angebliche Bedrohung durch iranische Interkontinentalraketen und der vorgesehenen Abwehr von Radarstationen, mit denen man tief in das russische Hinterland hineinblicken kann, ist meiner Meinung geeignet, als Bedrohung der strategischen Sicherheit Rußlands interpretiert zu werden, denn das würde der NATO im Falle eines bewaffneten Konfliktes die Fähigkeit zur Zweitschlagfähigkeit verleihen, d.h., die Möglichkeit, den im Falle eines Angriffs auf das russische Territoriums erfolgten Gegenschlag erfolgreich abwehren zu können.

Wäre es Ihnen möglich, Ihre Darstellung der Haltung Rußlands der EU gegenüber als "freundschaftliche Herablassung" mit konkreten Beispielen zu belegen?

MfG
Sven Rüger

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Sehr geehrter Herr Rüger,

vielen Dank für Ihre Anfrage, in der Sie sich besorgt über die, Ihrer Meinung nach, fortgesetzte Einkreisung Russlands durch die NATO äußern.

Bevor ich Ihre Frage beantworte muss allerdings geklärt sein, was man unter der Souveränität eines Staates versteht. Im Völkerrecht wird Souveränität als die grundsätzliche Unabhängigkeit eines Staates von anderen Staaten (Souveränität nach außen) und als dessen Selbstbestimmtheit in Fragen der eigenen staatlichen Gestaltung (Souveränität nach innen) verstanden. Die äußere Souveränität eines Staates besteht somit in seiner Völkerrechtsunmittelbarkeit, während seine innere Souveränität umgekehrt durch die Fähigkeit zu staatlicher Selbstorganisation bestimmt wird.

Jetzt stellt sich die Frage, ob die ehemaligen Länder des russischen Einflussgebiets im Interesse Moskaus auf ihre Souveränität verzichten sollen. Die NATO hat Polen, Tschechien oder das Baltikum nicht gezwungen, Mitglied in der transatlantischen Allianz zu werden. Es war der erklärte Wille dieser Staaten sich nach Jahrzehnten russischer Bevormundung von dessen Dominanz zu befreien. Im Februar 1991, als der Warschauer Pakt vertraglich aufgelöst wurde, unterzeichnete die UdSSR ein Kommuniqué, in dem "allen Staaten" das Recht eingeräumt wurde, "zu entscheiden, ob sie Mitglieder eines Bündnisses sein wollen oder nicht." Alexander Ruzkoj, der im September/Oktober 1993 an der Spitze des - schließlich gewaltsamen - Widerstandes gegen die von Präsident Boris Jelzin verfügte Auflösung des russischen Parlaments stand, würde heute wohl nur noch sehr ungern daran erinnert, dass er als russischer Vizepräsident bei einem Vortrag Ende November 1991 die NATO als "Garant für die Stabilität ganz Europas" bezeichnete und ihre Erweiterung "unausbleiblich" nannte. Langfristig sei es auch das Ziel Rußlands, ihr beizutreten. Letzteres wiederholte auch Jelzin einen Monat später. Im August 1993 erklärte Jelzin in Warschau, nichts gegen den Wunsch Polens nach NATO-Mitgliedschaft zu haben; dies wurde in einer polnisch-russischen Erklärung auch ausdrücklich festgehalten.

Von teilweise brachialer Kremlrhetorik sowie demonstrativen Säbelrasselns des Militärs, die Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit glaubwürdig machen will, sollte man sich nicht beeindrucken lassen. Die Politik Rußlands kalkuliert genau das eigene Risiko und nutzt dabei alle Konzessionen, die der Westen machen zu müssen glaubt. Die Erfahrung zeigt, dass Moskau seine Position immer so weit ausreizt, bis es auf definitiven Widerstand stößt; dann entwickelt es regelmäßig die Fähigkeit zu flexiblen Anpassungen oder sogar Kursänderungen (so in der Kubakrise und Tschetschenien).

In Rußland dürfte man eine vollendete NATO-Erweiterung unabhängig von allen neuen westlichen Krediten, der Aufnahme in internationale Finanzorganisationen, der "Grundakte" und Änderungen von Rüstungskontrollabkommen zu seinen Gunsten mehrheitlich als Niederlage seiner außen- und sicherheitspolitischen Strategie interpretieren. Dies wird allerdings nicht dazu führen, dass Moskau die Kontakte zum Westen einschränkt; schon gar nicht ist mit einem "zweiten Kalten Krieg" zu rechnen. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass sich Moskau - nachdem es zur Kenntnis genommen hat, dass es mit fortgesetzter Fundamentalopposition nichts erreicht - nach einer gewissen Zeit sogar kooperativer zeigt. Das würde schlussendlich die Einbeziehung Rußlands in eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur wesentlich erleichtern.

Was die Frage nach der "freundschaftlichen Herablassung" betrifft, verweise ich auf Kontext meiner Antwort an Herrn Billhardt.

Mit freundlichen Grüßen

Christian Hirte MdB

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