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Annalena Baerbock
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Frage von Lucia T. •

Frage an Annalena Baerbock von Lucia T. bezüglich Bildung und Erziehung

Sehr geehrte Frau Baerbock,

in der aktuellen "Zeit" (Kommentar von Anna Mayr) gibt es einen Vorschlag, wie man den Kindern mehr Zeit schenken könnte, um dass bisher in der Schule Versäumte möglichst ohne Druck und mit der Wertschätzung kindlicher und jugendlicher Lebenswelten nachholen zu können:
Die Idee ist, das derzeitige und das nächste Schuljahr jeweils um ein halbes Jahr zu verlängern. Die jetzigen Fünftklässer würden also erst im Januar 2022 zu Sechstklässlern. Einschulung wäre erst im Januar 2022. Das nächste Schuljahr würde im Sommer 2023 enden - und der Rhythmus wäre wieder hergestellt. In der Annahme, dass Hochschulen und Ausbildungsbetriebe flexibler auf die zweimalige Verzögerung reagieren können als Schule es könnte, müssten natürlich am Beginn der Spirale die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt werden: die Verlängerung des Elterngeldes und somit der Finanzierung einer längeren Elternzeit, um Kitas in keine Mehrbelastung zu bringen. Auch Schulen hätten mit diesem Ansatz keine Mehrbelastungen oder Mehrkosten zu befürchten. So die Logik.

Was halten Sie von dieser Idee? Halten Sie diese für umsetzbar?

Wie lautet Ihr Lösungsansatz, um diese Problematik aufzugreifen und das Aufholen von pandemiebedingt entstandenen Lerndefiziten, ohne zusätzlich Druck auf die Schüler*innen auszuüben (z.B. durch Nachhilfe außerhalb der Unterrichtszeit oder in den Ferien), zu ermöglichen?

Ich weiß: Bildung ist Ländersache. Aber ich hoffe auf ein gutes Konzept, welches sich vielleicht bundesweit durchsetzt?

Viele Grüße und Ihnen für Ihren erfolgreichen Weg alles Gute.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Tanneberger,

vielen Dank für Ihre Nachricht. Der Vorschlag, das derzeitige und das kommende Schuljahr um jeweils sechs Monate zu verlängern, zielt auf eine der großen Herausforderungen, vor denen unsere Schulen nach über einem Jahr Pandemie stehen: Viele Kinder und Jugendliche springen seit Monaten zwischen Präsenz- und Distanzunterricht hin und her. Sie haben in dieser Zeit nicht nur weniger gelernt oder bereits Gelerntes wieder vergessen. Für viele junge Menschen ist im vergangenen Jahr auch der soziale Lebensmittelpunkt weggebrochen. Sie konnten ihre Freund*innen nicht mehr einfach so treffen. Klassenfahrten mussten ausgefallen. Und wichtige Gespräche mit Lehrer*innen oder Schulsozialarbeiter*innen fanden viel seltener statt. Darunter leiden fast alle Kinder und Jugendlichen. Und es trifft diejenigen noch härter, die es zu Hause auch vorher schon schwerer hatten.

Als Grüne sind wir ganz grundsätzlich überzeugt, dass Schule als ein lernendes System Zeit, und Kinder individuelle Förderung statt Druck brauchen. Wichtig sind Bestätigung für das, was sie gelernt haben, inhaltlich und lebensweltlich und auch Klarheit darüber, wo sie stehen und was sie brauchen. Lernstandsfeststellungen sind deshalb aus unserer Sicht auch wichtiger als Noten. Schulen sollten zwar Zeugnisse anbieten, aber insgesamt weniger auf Abschlussnoten oder Prüfungen fokussieren. Stattdessen setzen wir auf strukturelle Hilfe, die individuelle Förderung möglich macht.

Durch die Pandemie ist an Schulen vieles durcheinander, aber auch in Bewegung gekommen. Wir wollen diesen Schwung nutzen, um unser Bildungssystem langfristig besser und gerechter zu machen. Mit einem umfassenden Bildungsschutzschirm möchten wir zunächst schnell dafür sorgen, dass jede*r Schüler*in stark aus der Krise kommt. Bildungsschutzschirm heißt für uns: kräftige Investitionen in zusätzliche Lernförderung, spannende Ferien- und Freizeitangebote, mehr Schulsozialarbeiter*innen und Psycholog*innen an Schulen, Krisenintervention und Einzelfallhilfe ausbauen, und nicht zuletzt die Kitas bei der Sprachförderung und anderen frühkindlichen Bildungsangeboten unterstützen. Denn hier wird der Grundstein für den späteren Bildungserfolg gelegt. Die Unterstützung, die wir jetzt an Schulen aufbauen, um die Folgen der Krise zu bewältigen, wollen wir dabei so anlegen, dass sie auch langfristig die intensive Förderung von Kindern und Jugendlichen in Kitas und Schulen ermöglichen. Denn klar ist auch, dass die negativen Folgen der Pandemie nicht einfach nach einem Jahr verschwunden sein werden.

Damit Kinder auch nach der Pandemie ohne Druck lernen können und Zeit haben, Neues zu entdecken und auszuprobieren, wollen wir den Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung- und betreuung schnell umsetzen, mit hohen Qualitätsstandards und zuverlässiger Betreuung als Entlastung für die Eltern. Die Zusammenarbeit mit Musikschulen, Sportvereinen oder Stiftungen, die auch jetzt mitanpacken können, damit Kinder und Jugendliche stark aus der Krise kommen, wollen wir auch nach der Pandemie weiter ausbauen. Gute Ganztagsangebote bieten dafür einen idealen Rahmen, um möglichst viele Kinder mit vielfältigen Angeboten zu erreichen.

Der von Ihnen angesprochene Vorschlag, das Schuljahr zu verlängern, ist aus unserer Sicht ein interessanter und wichtiger Beitrag in einer größeren Debatte, wie Schule nach der Pandemie eigentlich aussehen kann und was sie leisten muss. Allerdings würde auch dieser Schritt die strukturellen Probleme an unseren Schulen nicht auf Dauer lösen. Genau das ist für uns Grüne aber die Herausforderung, der wir uns stellen wollen. Wir wollen einen Aufbruch zu einem Schulsystem, das Lernverweigerung und Schulabbrüche genauso verhindert wie prekäre Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. "Agilität" und "Modernisierung" wollen wir dabei nicht nur mit Laptops und Smartboards gleichsetzen, sondern verstehen darunter auch ganz grundsätzlich einen flexiblen Umgang mit "Lernen und Lehren nach der Pandemie". Gemeinsam mit den Ländern wollen wir diesen Weg entschlossen gehen, damit alle Kinder und Jugendliche auch in Zukunft mehr Zeit und weniger Druck beim Lernen haben, um das aus sich herausholen können, was in ihnen steckt.

Beste Grüße
Team Annalena Baerbock

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