Als Annalena Baerbock ihre Boni als Grünen-Chefin im Mai 2021 mit großer Verspätung nachmeldete, war die Aufregung groß. Tatsächlich war Baerbocks laxer Umgang mit den Transparenzpflichten aber nur einer von vielen Fällen – die sichtbare Spitze eines gigantischen Eisbergs.
Interne Zahlen, die der Bundestag nach einer Klage von abgeordnetenwatch.de herausgeben musste, zeigen erstmals das Ausmaß der Pflichtverstöße. Offiziell bestätigt hatte der Bundestag bislang lediglich zehn Fälle seit Inkrafttreten der Transparenzvorschriften im Jahr 2005. Sie waren als schwerwiegend eingestuft und vom Bundestagspräsidenten öffentlich gemacht worden. Nun aber zeigt sich: Abgeordnete legten ihre Nebentätigkeiten oder Einkünfte in hunderten Fällen nicht korrekt offen. Von den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble und Norbert Lammert (beide CDU) waren sie, wie im Fall Baerbock, als minder schwer beziehungsweise als leichte Fahrlässigkeiten gewertet und bislang nicht veröffentlicht worden.
Wer die Abgeordneten sind, bleibt unklar – wegen der "Schutzwürdigkeit der Daten"
Allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 gab es 95 Fälle, in denen der damalige Parlamentspräsident Schäuble eine Prüfung wegen eines möglichen Pflichtverstoßes einleitete – 71 Mal stellte er einen solchen fest. Spürbare Konsequenzen hatte das jedoch nicht. Siebenmal kamen Abgeordnete mit einer internen Ermahnung davon. In 64 Fällen wurden Parlamentarier:innen von Schäuble daran erinnert, die Verhaltensregeln doch bitte beim nächsten Mal einzuhalten.
Wer die Abgeordneten sind, die gegen die Offenlegungspflichten verstoßen haben, ist unbekannt. Angaben zu einzelnen Parlamentarier:innen könne man nicht machen, dem stehe „die Schutzwürdigkeit dieser Daten“ entgegen, sagt die Bundestagsverwaltung.
Doch auch die rein statistischen Angaben, die neben abgeordnetenwatch.de auch der taz vorliegen, sind aufschlussreich. Sie stützen eine lang gehegte Vermutung: Dass Abgeordnete sich möglicherweise deswegen nicht an die Verhaltensregeln halten, weil sie keine spürbaren Konsequenzen zu befürchten haben.
Nach der Bundestagswahl 2017 explodierten die Zahlen
Als 2005 die Offenlegungspflicht für Nebentätigkeiten eingeführt wurde, gab es zunächst nur wenige Verstöße – in manchen Jahren waren es gerade einmal eine Handvoll. In der ersten Legislaturperiode nach Inkrafttreten (2005 bis 2009) leitete der Bundestagspräsident insgesamt 27 Prüfverfahren ein. In den beiden folgenden waren es mit 91 und 89 schon deutlich mehr. In den allermeisten Fällen stellte er einen Verstoß fest.
Nach der Bundestagswahl 2017 explodierten dann die Zahlen. Die Prüfverfahren im Laufe der 19. Legislaturperiode vervierfachten sich auf 388. In 288 Fällen wies der Präsident die Abgeordneten auf ihren Pflichtverstoß hin, achtmal sprach er eine interne Ermahnung aus, fünf Abgeordnete erhielten eine öffentliche Rüge.
Kommentare
Hartmut Wätzel am 27.02.2022 um 15:11 Uhr
PermalinkDas von Ihnen geschilderte bereits lange schon bekannte Phänomen der Nebenjobs ist letztlich nichts weiter als straf-und sanktionslose Abgeordnetenkorruption.
Das ist nicht nur möglich durch den mehr als laschen Vollzug der bereits geltenden Kontrollbestimmungen durch die Bundestagsverwaltung. Vielmehr liegt das Problem im System, das jedem Abgeordneten erlaubt, weitgehend intransparent beliebig viele gut dotierte Nebentätigkeiten auszuüben.
Letztlich wird das ganze System nur auszuhebeln sein durch ein radikales Verbot jeder bezahlten Nebentätigkeit während des Mandats, evtl. für eine gewisse Karenzzeit auch nach dessen Ablauf.
Im Gegenzug könnte man die Abgeordnetenbezüge durchaus verdoppeln, den Abgeordneten ein großzügiges Übergangs-und Wiedereingliederungsentgeld gewähren und den Freiberuflern ggf. während des Mandats einen Vertreter finanzieren.
Der Bevölkerung nicht zu vermitteln? Da käme es auf einen Versuch an !
Betrachtet man z.B. den Fall Nüsslein und Sauter kann sich jeder leicht ausrechnen, dass dies auch die billigste Lösung für den Steuerzahler wäre.
Reno Rutschmann am 13.03.2022 um 08:45 Uhr
Antwort auf Das von Ihnen geschilderte… von Hartmut Wätzel
PermalinkSchon blöd, dass man diesen Artikel nicht Teilen kann...
Ulrike Meyer-Everloh am 28.02.2022 um 19:49 Uhr
PermalinkSehr geehrte Damen und Herren,
sehr gut, dass Sie das aufgedeckt haben. Das Ergebnis ist auch ein Armutszeugnis für die Bundestagsverwaltung. Was findet sie wichtig? Da können wir ja nur hoffen, dass auch noch etwas wichtiges von ihr erledigt wird. Ich habe da gerade Bedenken.
Den Hinweis auf den Datenschutz verstehe ich nicht. Ich dachte, dass die Angaben über die Nebentätigkeiten ohnehin öffentlich gemacht werden. Stimmt das nicht? Man erinnert sich halt schneller auch an lästige Vorgaben, wenn das Ungemach der Veröffentlichung der eigenen Vertuschungen droht. Wenn‘s so peinlich ist, lieber die Nebentätigkeit nicht annehmen. Das ist -glaube ich- erlaubt.
Viele Grüße
Ulrike Meyer-Everloh
abgeordnetenwatch.de am 01.03.2022 um 10:12 Uhr
Antwort auf Sehr geehrte Damen und… von Ulrike Meyer-Everloh
PermalinkLiebe Frau Meyer-Everloh, vielen Dank für Ihren Kommentar. Die Nebentätigkeiten und die daraus erzielten Einkünfte sind, wie Sie richtig sagen, öffentlich. Das Problem besteht in der Veröffentlichung von Verstößen gegen die Veröffentlichungspflicht. Hier kommt es darauf an, wie der Bundestagspräsident bzw. die Bundestagspräsidentin einen Pflichtverstoß bewertet. Wird er als "minder schwer oder als leichte Fahrlässigkeit" eingestuft, wird der Fall nach den Verhaltensregeln des Bundestags nicht öffentlich gemacht. Die Bundestagsverwaltung verweigert in diesen wie auch in allen anderen Fällen, in denen es um Abgeordnete und ihre Nebentätigkeiten geht, grundsätzlich konkrete Auskunft zu einer Personen und begründet dies wie folgt:
"Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 16.03.2016 Az. 6 C 65/14) ist die Verwaltung des Deutschen Bundestages zur Auskunft nur verpflichtet, soweit sich die erbetenen Angaben nicht auf einzelne Abgeordnete unter Namensnennung, sondern auf die Gesamtheit der Abgeordneten beziehen. Personenbezogene Daten von Abgeordneten stehen in einem rechtlichen Zusammenhang mit der Mandatsausübung. Die Schutzwürdigkeit dieser Daten wird daher über das grundrechtlich geschützte informationelle Selbstbestimmungsrecht hinaus durch die durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgte Freiheit des Mandats gewährleistet."
Beste Grüße
M. Reyher, abgeordnetenwatch.de
GABY am 29.05.2022 um 22:03 Uhr
Antwort auf Liebe Frau Meyer-Everloh,… von abgeordnetenwatch.de
Permalink...NA PRIMA
Katharina Schwebs am 30.08.2022 um 17:36 Uhr
Antwort auf Liebe Frau Meyer-Everloh,… von abgeordnetenwatch.de
PermalinkNaja gut, soll die Bundestagsverwaltung rechtswidrig gegen ein so klares Urteil handeln?
abgeordnetenwatch.de am 31.08.2022 um 09:45 Uhr
Antwort auf Naja gut, soll die… von Katharina Schwebs
PermalinkSehr geehrte Frau Schwebs, die Bundestagsverwaltung soll selbstverständlich nicht gegen Gerichtsurteile verstoßen. Es war in der Vergangenheit eher umgekehrt: Die Bundestagsverwaltung HAT gegen ein Gesetz verstoßen, indem sie uns Auskünfte über die internen Ermahnungen von Abgeordneten verweigerte. Unsere erfolgreiche Klage hat dazu beigetragen, dass künftig mehr Transparenz herrscht bzgl. der Verstöße von Abgeordneten gegen die Verhaltensregeln. Die Bundestagspräsidentin muss künftig zu Beginn einer Legislaturperiode einen Bericht vorlegen, in dem sie darüber Auskunft gibt. Bis zu unserer Klage wollte die Verwaltung diese Angaben nicht herausgeben.
Werner Roßberg am 26.12.2022 um 15:52 Uhr
Antwort auf Liebe Frau Meyer-Everloh,… von abgeordnetenwatch.de
PermalinkToll! Je nachdem die Bundestagsverwaltung es auslegt ist ein Verstoß ein Verstoß oder ein Verstoß kein Verstoß. Zum Wohle des Abgeordneten! oder wie war das?
Ch. Schonscheck am 13.03.2022 um 12:23 Uhr
PermalinkFür die normalen Bürgerinnen und Bürger ist es unerträglich, daß sie ihre Tätigkeiten und Einkünfte bis zum letzten Cent offenlegen müssen, während unsere Staatsdiener sich ihre eigenen Gesetze machen und unangemeldete Nebentätigkeiten allenfalls mit dem "Du-Du-Finger" geahndet werden. Abgeordnete, die überwiegend ihre eigenen Interessen verfolgen und nur in der Politik sind, weil es ihr Bestreben ist ihre geschäftlichen Netzwerke ausbauen, sollten ebensolchen Sanktionen unterliegen, wie jeder Mensch in der Bevölkerung, der sich unzulässig bereichert. Daß dafür kein unabhängiges Gremium, sondern häufig eigene Parteimitglieder dies beurteilen, ist skandalös. Und selbst die Parteien untereinander haben bei der Profitmaximierung ein allzu großes Verständnis. Hier wirkt das Beispiel mit der Krähe. Im übrigen sollten diese Nebentätigkeiten nur in ganz eng begrenzten Fällen und mit einem Zeitlimit erlaubt und belegt werden. Wer in die Politik geht und vom Steuerzahler bezahlt wird ist m.E. verpflichtet sich prioritär den politischen Aufgaben zu widmen und nicht der eigenen Profitmaximierung.
Stefan Tolkmitt am 17.03.2022 um 00:56 Uhr
PermalinkMir ist unverständlich, wie die Verflechtungen vieler Abgeordneter immer noch geduldet werden. So simple Beispiele wie die Angaben von Christian Lindner, der erhebliche Zahlungen über Jahre von einer Eventagentur angibt, deren Geschäftsführerin selber FDP-Mitglied ist, deren Zahlungen aber doch ganz offensichtlich nicht von der Agentur selber stammen ist nur eines von vielen Beispielen.
Hier wird schamlos das vernachlässsigte Berichtssystem deutscher Gesellschaften genutzt und kreative Angaben gemacht, die harmlos erscheinen sollen. Es wird geschickt jeder Graubereich genutzt, was um so schwerer wiegt, da eine große Anzahl von Juristen in politischen Positionen sitzen.
Wir bezahlen Politiker für Ihre Parlamentsarbeit und anhand der Angaben muss man sich bei vielen fragen, wie Sie es schaffen, an einem Tag mehrere Vorträge und Veranstaltungen gegen Bezahlung Dritter durchzuführen, wenn Sie doch als Vollzeitpolitiker voll ausgelastet sein sollten. Die Arbeit von Abgeordnetenwatch sollte viel öffentlicher gemacht werden, damit diese Scheinheiligkeit überwunden werden kann. Vielen Dank für Ihre gute Arbeit!
Alexander Schrade am 02.08.2022 um 12:40 Uhr
PermalinkIch finde es gegenüber den Wählern eine Frechheit, dass Abgeordnete immer noch ihre zusätzlichen Einkommensquellen verheimlichen. Das hat doch nichts mit Vertrauen zu tun. Es fühlt sich an, als würden diese Abgeordneten sich jeden Tag freuen, wenn der Wähler nicht erkennen kann, warum Entscheidungen fallen und ob diese etwa aus Gier beeinflusst wurden.
SCHLIMM - Schleswig-Holstein und deine Regierung! SCHLIMM
GABY am 16.09.2022 um 22:25 Uhr
Antwort auf Ich finde es gegenüber den… von Alexander Schrade
PermalinkDas tun die Abgeordneten bestimmt auch . :-(
Alexander Schrade am 02.08.2022 um 12:54 Uhr
PermalinkEntfernt. Nutzen Sie den Kommentarbereich bitte um sich sachlich über den Artikelinhalt auszutauschen. Danke, die Redaktion/db
Katharina Schwebs am 30.08.2022 um 17:33 Uhr
PermalinkVerstehe ich das richtig, dass die Abgeordneten innerhalb von 3 Monaten Umstände anzeigen müssen und wenn sie dabei lediglich zu spät sind, ein minder schwerer Fall vorliegt?
Wer sagt denn, dass die vielen Fälle an "Pflichtverstößen" nicht einfach viele Abgeordnete waren, die lediglich einen Tag zu spät das Formular abgegeben haben? Wäre das dann immer noch so ein Skandal, wie sie das hier darstellen?
abgeordnetenwatch.de am 31.08.2022 um 09:40 Uhr
Antwort auf Verstehe ich das richtig,… von Katharina Schwebs
PermalinkSehr geehrte Frau Schwebs, nach den Verhaltensregeln müssen Abgeordnete innerhalb von drei Monaten melden, wenn sie eine neue Nebentätigkeit aufgenommen oder neue Einkünfte erhalten haben. Die Zahlen, die die Bundestagsverwaltung zur Häufigkeit der Verstöße herausgeben musste, sagen nichts darüber aus, wie groß die Fristüberschreitung war. Allerdings sind zahlreiche Fälle belegt, wo es nicht um einige Tage ging, sondern um Monate oder teilweise Jahre (siehe etwa die im Artikel erwähnten Max Straubinger und Annalena Baerbock) - oder aber wo Nebentätigkeiten erst gemeldet wurden, nachdem wir und andere darauf gestoßen waren und die Abgeordneten damit konfrontiert hatten (https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/nebentaetigkeiten/zahlreiche-abgeordnete-verstiessen-gegen-transparenzvorschriften). Unser Punkt ist, dass eine interne Ermahnung keine abschreckende Wirkung hat: Wenn Abgeordnete damit rechnen können, dass niemand von einem Verstoß erfährt, befördert dies einen laxen Umgang mit den Transparenzpflichten.
Jan Jaeger am 08.12.2022 um 01:44 Uhr
PermalinkMit dem Professional CEO Alzheimer2.0 "Ich kann mich nicht erinnern." Kanzler wundert sich wirklich noch jemand wenn Abgeordnete mal was vergessen anzugeben?
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