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Terry Reintke
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Christine K. •

Frage an Terry Reintke von Christine K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Reintke,

seit 2014 wird über eine europäische Arbeitslosenversicherung diskutiert.

Ist diese Diskussion noch aktuell? Falls ja, können Sie mir aus Ihrer Sicht die Auswirkungen einer solchen europäischen Arbeitslosenversicherung schildern? Was wären aus Ihrer Sicht die Vorteile, was die Nachteile für die deutschen Arbeitslosen?

Herzlichen Dank im Voraus.

Mit freundlichem Gruß

C. K.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau K.,

die Idee der europäischen Arbeitslosenversicherung ist nicht neu: Bereits Mitte der 1970er Jahre wurde die Forderung nach einem supranationalen Transfersystem laut und in den ersten Machbarkeitsstudien zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion artikuliert (MacDougall 1977). Für eine breite Unterstützung des Konzepts auf europäischer Ebene warb vor wenigen Jahren dann insbesondere der ehemalige EU-Kommissar für Arbeit, Soziales und Integration, László Andor, der die Diskussion gegen Ende seiner Amtszeit im Jahr 2014 angestoßen und dadurch wesentlich geprägt hat. Zwar verfolgt die derzeitige EU-Kommission diese Diskussion im Moment nicht aktiv weiter, aber dennoch wird in Diskursen über die Zukunft der EU immer wieder dieses Thema aufgegriffen und insbesondere Gewerkschaften und Sozialverbände sind bemüht, die Diskussion nicht abreißen zu lassen.

Ich persönlich sehe in der europäischen Arbeitslosenversicherung ein sehr wichtiges und erwägenswertes Instrument, das nicht nur zur Dämpfung asymmetrischer Schocks und damit zur Stabilisierung der Eurozone, sondern auch zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts beitragen kann. Allein der Umstand, dass die Eurozone weltweit die einzige Währungsunion ohne einen automatischen Stabilisator ist, der asymmetrische Schocks dämpfen und damit Krisen abschwächen könnte, sollte uns vor Augen führen, wie notwendig die Einführung eines supranationalen Transfersystems ist.

Die europäische Arbeitslosenversicherung könnte so ausgestaltet werden, dass es als Grundlage eine europäische Basisabsicherung für den begrenzten Zeitraum eines Jahres gibt und Kompensationszahlungen entsprechend des Verdienstes vor der Arbeitslosigkeit vorgenommen werden. Wichtig für das Verständnis dieses Systems ist, dass es darauf ausgelegt ist, ausschließlich kurzfristige Arbeitslosigkeit bis zu maximal einem Jahr zu versichern. Das oftmals reflexionsartig genannte Argument, dass es mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung zu dauerhaften Transferleistungen zwischen wirtschaftlich starken und wirtschaftlich schwachen Ländern kommen würde, kann daher bereits von vornherein widerlegt werden. Den einzelnen Staaten bleibt es selbst überlassen, eine über das europäisch abgesicherte Basisniveau hinausgehende nationale Absicherung anzubieten. Dies wäre zum Beispiel in Form einer Aufstockung der Höhe der Kompensationszahlungen von Beginn an oder als Ausweitung der nationalen Versicherung über das erste Jahr hinaus möglich. Für die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung nach diesem Modell würden keine zusätzlichen Beiträge oder Steuern benötigt werden und auch der bürokratische Zusatzaufwand könnte relativ klein gehalten werden, da die Versicherung über die bestehenden Sozialversicherungsträger abgewickelt werden würde.

Der größte Vorteil eines solchen Systems ist seine Funktion als automatischer Stabilisator, der die Gesamtwirtschaft beim Auftreten asymmetrischer Schocks kurzfristig stabilisieren kann. Die unmittelbare Wirkung des Systems würde durch die direkte Nachfragewirksamkeit in Form erhöhter Arbeitslosenzahlen sichtbar werden. Ein weiterer Vorteil ist die Robustheit des Systems gegenüber politischer Manipulation durch einen automatischen Zusammenhang zwischen Transferzahlungen und der konjunkturellen Situation eines Landes. Zudem zeigt sich die Wirksamkeit der Transferzahlungen noch vor dem Wendepunkt der Rezession, was dadurch geschieht, dass die Kompensationszahlungen bereits ab dem ersten Monat der Arbeitslosigkeit vorgenommen werden. Außerdem können die besonders stark von Krisenzeiten betroffenen Staaten deutlich entlastet werden, da es eine geringere Wahrscheinlichkeit der Kürzung von Sozialleistungen gibt.

Zudem hat sich nach Simulationsrechnungen die Effektivität dieses Systems bestätigt: So hätte es eine europäische Arbeitslosenversicherung möglich gemacht, bis zu 16 Prozent der Rezession nach 2001 zu stabilisieren, wobei gerade die erweiterten Leistungen eine signifikante Steigerung des Stabilisierungseffekts erzielt hätten (Dullien 2007, 2008). Außerdem wurde berechnet, dass der Rückgang des BIP in Spanien um fast ein Viertel geringer ausgefallen wäre und auch Irland und Griechenland ungefähr 10 Prozent des Abschwungs hätten abfedern können, wenn es während der Eurokrise bereits eine europäische Arbeitslosenversicherung gegeben hätte. Die Berechnungen haben außerdem ergeben, dass Deutschland insbesondere in den Jahren der Vorkrise (2003 bis 2005) Nettoempfänger gewesen wäre. Das heißt, dass die Bundesrepublik ebenso wie andere Staaten im Falle einer Krise sowohl von der europäischen Arbeitslosenversicherung als auch von besseren Reaktionsmöglichkeiten der Europäischen Zentralbank profitieren würde.

Doch neben den berechenbaren Vorteilen birgt die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung natürlich auch gewisse Risiken. Dazu zählt in erster Linie der politische Widerstand, denn die Skepsis gegenüber der Einführung eines solchen Modells ist groß. Zudem kann die europäische Arbeitslosenversicherung strukturelle Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten weder beheben noch verhindern: Staaten mit vielen Kurzzeitarbeitslosen und hoher saisonaler Arbeitslosigkeit profitieren stärker davon als Staaten mit vielen Langzeitarbeitslosen.

Trotzdem überwiegen meines Erachtens die Vorteile einer europäischen Arbeitslosenversicherung, weshalb ich mich klar für die Einführung dieses Systems ausspreche.

Herzliche Grüße
Terry Reintke

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