Sehr geehrter Herr Kiesewetter, ist die Entwaffnung der Hamas ein realistisches Ziel mit den Vorgabe keine zivile Opfer und bei Berücksichtigung der Vernetzung im Volk. Zu erkennen am Wahlergebnis?

Sehr geehrte Frau T.
vielen Dank für die wichtige Frage, die ehrlich sehr schwierig zu beantworten ist. Vorweg – auch im Krieg oder bei militärischen Operationen gibt es gem. Völkerrecht keine Vorgabe, daß in Ihren Worten aus der Frage überhaupt "keine zivilen Opfer" entstehen dürfen. Einen solchen Krieg gibt es nicht, auch das Kriegsvölkerrecht stellt diese Anforderung nicht. Vielmehr zielt es darauf ab, die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten auf die Zivilbevölkerung zu begrenzen und unnötiges Leid zu vermeiden und stellt deshalb Anforderungen wie Verhältnismäßigkeit, Vorsichtsmaßnahmen, Unterscheidung von Kombattanten u.w., an das sich Israel meinen Kenntnissen nach stets gehalten hat, die Hamas jedoch in keinster Weise. Auch sagt z.B. die Verhältnismäßigkeit erstmal nichts über Quantitäten aus, die es in dem Fall auch nicht beziffert gibt, da keine Zahlen zum Verhältnis von Kombattanten-Zivilsten vorliegen. (vgl. z.B. https://www.bundestag.de/resource/blob/1098862/WD-2-016-25.pdf)
Aus rein militärischer Sicht würde ich sagen: Ja, es ist definitiv erreichbar die Hamas zu entwaffnen, wenn man ausschließlich den Blick auf das militärische Gefechtsfeld beschränkt. Auch ist es möglich, die politischen, finanziellen und militärischen Strukturen und Führer soweit zu vernichten, den Druck militärisch so zu erhöhen, daß die übrigen Hamas-Kämpfer die Waffen niederlegen. Dies wäre am effektivsten dann gegeben, wenn Israel auch von Staaten der Region unterstützt werden würde. Doch Israel muss beim militärischen Vorgehen immer auch die Verhältnismäßigkeit und v.a. die Einsatzoptionen beachten. Die Einsatzoptionen stellen sich in Gaza als besonders schwierig dar, weil es ein Guerillakampf ist, Gaza dicht besiedelt ist, Kombattanten sich als Zivilisten tarnen und Zivilisten als Schutzschild benutzen sowie umfassend zivile Infrastruktur militarisiert wurde und somit tendenziell zum militärisch relevanten und rechtmäßigen Ziel wird. Die Hamas verstößt damit in ihrer Kampfform gegen sämtliche Regeln des Völkerrechts. Das militärische Vorgehen ist für Israel also besonders schwer und mit hohen Gefahren für die eigenen Soldaten verbunden.
Dazu kommt eine politische Dimension, die es zu berücksichtigen gilt. Die Terrororganisation Hamas und das sie unterstützende und lenkende Mullah-Regime im Iran sind dabei, den kognitiven Krieg in großen Teilen des Westens zu gewinnen. Das führt zur zunehmenden Täter-Opfer-Umkehr und wachsendem Antisemitismus im Westen und bringt westliche Regierung auch dazu, politische Entscheidungen gegen Israel und gegen das Selbstverteidigungsrecht Israels zu treffen, die das militärische Vorgehen erschweren und den strategischen Erfolg für die Region insgesamt unterminieren, weil sie die Hamas letztlich stärken. Dabei geht es nicht nur um Waffenlieferungen, sondern auch um den Antisemitismus, der israelische und jüdische Bürger weltweit gefährdet und die politische Isolation Israels, was ebenfalls immer auch die israelischen Bürger sowie Juden weltweit betrifft – auch ihnen gegenüber hat die israelische Regierung bei der Abwägung militärischer Operationen und Entscheidungen eine Verantwortung (auch wenn ich an dieser Stelle klarstellen will: Israel ist das Oper, hat ein Selbstverteidigungsrecht und die Pflicht zur Befreiung der Geisel und die Politikänderung einiger Staaten wie Frankreich ist meiner Meinung nach falsch).
Eine andere politische Dimension kommt hinzu: Es liegt in der Hand insb. arabischer Staaten wie auch z.B. der E3, der Hamas die finanzielle und politische Grundlage zu entziehen, in dem der Snapback-Mechanismus ausgelöst wird und die Hamas-Führung beispielswiese aus ihren sicheren Unterkünften in der Türkei oder Katar entfernt wird. Auch liegt es in der Verantwortung der Weltgemeinschaft, die Zweckentfremdung humanitärer Hilfen oder UN-Gelder an die Hamas zu unterbinden. Zuletzt gilt es eine gesellschaftliche-zivile Komponente mitzudenken bei jedem militärischen Vorgehen: Israel muss die von der Hamas verschleppten und gefolterten Geiseln befreien und dazu sind aus meiner Sicht zwangsläufig weitere militärische Operationen nötig, da die Hamas offenbar nicht verhandelt. Gleichzeitig muss bei militärischen Operationen – unabhängig von der Frage der Verhältnismäßigkeit – immer mit bedacht werden, ob dadurch neue Terroristen, neuer Hass und eine Ausbreitung der antisemitischen Ideologie begünstigt werden. Auch ist zu berücksichtigen, ob das vielleicht irgendwann gar keine Rolle mehr spielt, weil die Hamas bereits zu erfolgreich auf dem kognitiven Feld agiert. Zuletzt stellt sich im engeren Sinne die Verhältnismäßigkeitsfrage bei jeder einzelne Operation und insgesamt. Kann das militärische Ziel mit dem Einsatzplan erreicht werden, gibt es mildere Mittel? Rechtfertigt die Gefahr für eigene Soldaten das Ziel u.s.w. Diese Verhältnismäßigkeit sehe ich persönlich mit den Informationen, die vorliegen als gegeben an, zumal die Hamas gezielt die Bevölkerung als Schutzschild benutzt, Infrastruktur durch Booby Traps und ähnliches zum Einsturz bringt, Gaza untertunnelt und Gebäude militarisiert hat. Für alle zivilen Opfer ist zunächst einmal die Hamas verantwortlich. Die Hamas hat es selbst in der Hand, den Krieg zu beenden, indem die Hamas die Waffen niederlegt und die Geiseln freilässt. So lange sie das nicht tut, bleiben Israel kaum andere Optionen, um sich selbst und seine Bevölkerung zu schützen und die Geiseln zu befreien.
Militärisch halte ich es deshalb für machbar, zwar hochschwierig mit z.T. chirurgischen Operationen durchzuführen, aber machbar – es hat sehr hohe politische Kosten und auch ein militärischer Erfolg bedeutet nicht, daß Israel nachhaltig sicher ist, denn der Iran hat weitere Proxies, die nahezu täglich Israel mit Raketen angreifen. Das Mullah-Regime strebt weiter die Vernichtung Israels an und Gaza und die Region muss auch von der Hamas-Ideologie befreit werden, nur so wird eine 2- Staaten-Lösung und somit nachhaltige Stabilität möglich. Ein wichtiger Faktor dabei ist jedoch, ob westliche Staaten der kognitiven Kriegsführung durch Hamas nachgeben und jede militärische Operation damit erschweren oder ob sie weiter klar für das Selbstverteidigungsrecht Israels und an der Seite des jüdischen Staates stehen und den Antisemitismus auf ihren Straßen in Berlin, Paris oder London effektiv bekämpfen.
Mit freundlichen Grüßen
Roderich Kiesewetter