Warum ist in Niedersachsen ein Berufsorientierungsjahr nach der 10. Klasse nicht möglich?
Sehr geehrte Frau Hamburg,
unser Sohn hat im Juni 2025 die 10. Klasse mit dem Realschulabschluss verlassen. Er hat zur Zeit buchstäblich „die Nase voll“ von der Schule. Deshalb möchte er jetzt ein Jahr in unterschiedlichen Unternehmen längere Praktika absolvieren. Ein 1. Praktikum hat er bereits in den Sommerferien absolviert. Das nächste Praktikum soll am 18. August starten. Die Schulbehörde hat uns auf telefonische Nachfrage zunächst Hoffnung gemacht, dass dies möglich sei, wenn wir versichern, dass er nächstes Jahr im Sommer eine Ausbildung beginnt oder möglicherweise doch weiter zur Schule geht. Jetzt rudert die Schulbehörde zurück und unserem Sohn wurde von der Agentur für Arbeit schon ein Bußgeld angedroht.
Eine FSJ ist für ihn keine Alternative, da er möglichst viele unterschiedliche Berufe kennenlernen möchte.
Warum ist man in Niedersachsen so unflexibel?
Vielleicht können Sie uns einen Weg aufzeigen, wie so etwas doch noch möglich wäre.
Herzlichen Dank
Hallo,
vielen Dank für Ihre Nachricht und für die Schilderung der Situation Ihres Sohnes. Wir verstehen sehr gut, dass nach dem erfolgreichen Abschluss der 10. Klasse der Wunsch besteht, verschiedene berufliche Tätigkeiten praktisch kennenzulernen. Viele junge Menschen möchten nach zehn Schuljahren erst einmal Erfahrungen außerhalb des Klassenraums sammeln.
Gleichzeitig sind wir an die rechtlichen Vorgaben zur Schulpflicht gebunden. Mit dem Realschulabschluss endet zwar der Sekundarbereich I, doch beginnt anschließend die Schulpflicht im Sekundarbereich II. Diese ist im Niedersächsischen Schulgesetz (NSchG) klar geregelt:
- Die Schulpflicht ist entweder durch den Besuch einer allgemein bildenden Schule oder einer berufsbildenden Schule zu erfüllen (§ 67 Abs. 1 NSchG).
- Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis sind verpflichtet, eine berufsbildende Schule in Vollzeitform zu besuchen (§ 67 Abs. 3 NSchG).
Ein freiwilliges Praktikumsjahr ohne schulische Anbindung kann diese gesetzlich vorgesehene Schulpflicht nicht ersetzen. Aus diesem Grund haben Schulbehörden und die Agentur für Arbeit auf mögliche Folgen hingewiesen.
Welche Möglichkeiten bestehen dennoch?
Das Schulgesetz sieht für Jugendliche, die in besonderem Maße auf sozialpädagogische Unterstützung angewiesen sind, eine Ausnahme vor (§ 69 Abs. 4 NSchG). In diesen Fällen kann die Schulpflicht im Sekundarbereich II auch durch den Besuch einer geeigneten außerschulischen Einrichtung erfüllt werden. Dies kann – je nach individueller Lage – auch längerfristige Praxisphasen und Praktika einschließen.
Voraussetzung dafür sind:
- Die Anbindung an eine zuständige Berufseinstiegsschule (BES).
Die BES begleitet die Maßnahme und führt den Jugendlichen schulrechtlich. - Ein einzelfallbezogener Förderplan, der gemeinsam von der BES und der außerschulischen Einrichtung erstellt wird und Ziele, Umfang und pädagogische Begleitung der Maßnahme definiert.
Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind und die BES den Unterstützungsbedarf entsprechend einschätzt, kann eine solche Ausnahmeregelung bewilligt werden.
Empfohlenes Vorgehen:
Wir raten Ihnen, zeitnah Kontakt mit der zuständigen Berufseinstiegsschule aufzunehmen. Dort kann geprüft werden,
- ob im Fall Ihres Sohnes ein besonderer Unterstützungsbedarf vorliegt,
- ob eine Ausnahmeentscheidung nach § 69 Abs. 4 NSchG in Betracht kommt und
- wie ein möglicher Förderplan gestaltet werden könnte, um strukturierte Praktika zu ermöglichen.
Warum wirken die Regelungen so restriktiv?
Die Schulpflicht im Sekundarbereich II soll sicherstellen, dass Jugendliche nach ihrem Abschluss nicht ohne Anschluss bleiben und auf dem Weg in Ausbildung oder Beruf verlässlich begleitet werden. Praxisphasen sind ausdrücklich möglich, müssen jedoch pädagogisch eingebettet und rechtlich abgesichert sein.
Mit freundlichen Grüßen
Team Hamburg

