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Jörg Vogelsänger
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Frage von Stefan H. •

Frage an Jörg Vogelsänger von Stefan H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Herr Vogelsänger,
eine Frage zu Ihrem Abstimmungsverhalten: Am 07.10.2008 haben Sie mit „Ja“ der Verlängerung des Kriegseinsatzes in Afghanistan zugestimmt, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung diesen rasch beenden möchte (lt. Emnid-Umfrage halten 62% die Beteiligung der Bundeswehr für falsch).
Selbst der Bundeswehrverband, der dem Afghanistan-Einsatz durchaus positiv gegenübersteht, hat der Bundesregierung ein Herunterspielen der Gefahren vorgeworfen. "Wir befinden uns im Krieg", sagte der Verbandsvorsitzende B. Gertz (Neue Osnabrücker Zeitung).
Die Kriegskosten werden also, auch mit Ihrer Unterstützung, bis Dez. 2009 (nach den BT-Wahlen!) auf 688 Mio. Euro steigen (+ 30% bezogen auf 12 Monate), während dagegen die Gelder für den zivilen Wiederaufbau nur auf 140 Mio Euro steigen (website der Bundesregierung).
Die Kosten für den bisherigen deutschen Einsatz in Afghanistan bezifferte übrigens die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Ulrike Merten (SPD) lt. Tagesspiegel, auf 2,634 Mrd. Euro.
Und gleichzeitig gibt es für eine Vielzahl sozialer Projekte in Deutschland keine Gelder bzw. massive Kürzungen. Man denke nur an die wachsende Armut durch Hartz IV, deren Verschärfung Sie übrigens 2006 auch zustimmten. Laut dem "Dossier Kinderarmut" sind 2,4 Mio. Kinder, also jedes sechste Kind, armutsgefährdet. Diese Zahl nennt auch UNICEF in seinem "Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland“. Nach Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes lebten 2007 mehr als 1,7 Mio. Kinder auf dem Niveau der Sozialhilfe.
Warum also gaben Sie diesem Kriegseinsatz Ihre Zustimmung? Ist er zum Wohle des deutschen Volkes, dem Sie ja verpflichtet sind? Wenn ja: wieso?
Meiner Meinung nach verträgt es eine Demokratie auf Dauer nicht, wenn die Regierung ein ums andere Mal gegen die Interessen/Wünsche des Volks handelt.
Vor diesem Hintergrund: Wie ist Ihre Meinung zur Änderung des Artikels 35 GG (Einsatz der Bundeswehr im Innern)?
Stefan Hultsch

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Hultsch,

vielen Dank für Ihre Zuschrift, die sich auf die Verlängerung des Mandats der deutschen Beteiligung an der NATO-geführten internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) durch den Deutschen Bundestag am 16.10. 2008 bezieht.

In Reaktion auf die in der deutschen Öffentlichkeit immer kritischere Diskussion des deutschen Engagements in Afghanistan wurde im Oktober 2006 die „Task Force Afghanistan“ als Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion mit dem Ziel gebildet, die Entwicklung in Afghanistan aufzuarbeiten. Es ging darum, nicht die Augen vor Fehlentwicklungen oder Tendenzen, die problematisch sind, zu verschließen, sondern den Ursachen hierfür nachzugehen und die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserungen der Lage zu benennen und bei der Regierung einzufordern. Der Abschlussbericht vom 7.September 2007 unterstreicht das Interesse Deutschlands an einer Stabilisierung Afghanistans, am friedlichen Wiederaufbau sowie an einem langfristigen Engagement, das dazu führt, dass Afghanistan nicht wieder zum sicheren Hafen für Terroristen wird.

(Unter http://spdfraktion.de/ ‚Veröffentlichungen‘ können Sie die von der „Task Force Afghanistan“ erarbeitete Broschüre herunter laden.)

Die internationale Gemeinschaft sieht sich dabei gewaltigen Herausforderungen gegenüber. Fehlentwicklungen und Rückschläge sind nicht zu übersehen: Die Sicherheitslage hat sich seit 2005 verschlechtert. Auch das Drogenproblem und die Korruption in der Regierung und Verwaltung Afghanistans fordern gewaltige Anstrengungen, um den Trend umzukehren. Die veränderte Sicherheitslage erfordert einen schnelleren Aufbau afghanischer Sicherheitsstrukturen und eine Verstärkung des deutschen Engagements bei der Ausbildung von afghanischer Polizei und Armee. Dazu war die Erhöhung der Obergrenze des deutschen ISAF-Kontingents nötig. Die Mittel für den Polizeiaufbau werden in diesem Jahr verdreifacht.

Der Einsatz von ISAF in Afghanistan ist unverzichtbar für die Schaffung eines sicheren Umfeldes, in dem langfristig Stabilisierung und Entwicklung stattfinden können. Insofern verfolgt ISAF keine militärische, sondern eine politische Zielsetzung. In der Öffentlichkeit werden jedoch vorwiegend die militärischen Aspekte des Engagements diskutiert. Die Erfolge, die politisch und beim Aufbau erreicht wurden, geraten dabei oft aus dem Blickfeld. In einer unvoreingenommenen Bilanz dürfen aber auch sie nicht fehlen. Dazu gehören die Durchführung von freien Wahlen und die Entstehung von Verfassungsorganen. Seit Januar 2004 hat Afghanistan mit Hamid Karzai einen frei gewählten Staatspräsidenten, seit September 2005 gibt es auch erstmals ein in freien und allgemeinen Wahlen bestimmtes Abgeordnetenhaus. Afghanistan hat eine Verfassung, die den Frauen und Mädchen gleiche Rechte wie den Männern einräumt. Der Rückgang der Kindersterblichkeit und die Tatsache, dass mittlerweile 85% der Afghanen Zugang zur medizinischen Versorgung haben, zeigen z.B., dass das Gesundheitswesen bedeutsame Fortschritte gemacht hat. Erfolge gibt es z.B. auch im Bildungsbereich: 75% der Jungen und 35% der Mädchen gehen inzwischen zur Schule. Seit 2001 wurden landesweit 3.500 Schulen gebaut, die Zahl der Schülerinnen und Schüler hat sich auf rund sechs Millionen mehr als verfünffacht. Die afghanische Wirtschaft kommt voran: Die Exporte steigen, das Bruttoinlandsprodukt wächst jährlich mit zweistelligen Raten. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in den letzten fünf Jahren auf rund 220 Euro verdoppelt. Auch wenn diese und weitere Fortschritte nicht ausreichen, sie eröffnen den Afghanen neue Chancen.

Es gibt keine einfache und keine rasche Lösung für das Problem Afghanistan. Deshalb fällt eine Entscheidung für oder gegen einen internationalen Einsatz niemandem leicht. Jeder weiß, die Arbeit in Afghanistan ist nicht einfach und alles andere als ungefährlich. Dennoch ist die Bundesrepublik Deutschland hier im Wort. Es geht im Kern um zwei Dinge: um die Zukunft Afghanistans und um unsere eigene Sicherheit. Die afghanische Bevölkerung vertraut auf deutsche Hilfe und die internationale Gemeinschaft auf unsere Solidarität. Ein Abzug zum jetzigen Zeitpunkt würde die geleistete Arbeit in Frage stellen und erhebliche negative Folgen haben: Für die Afghanen und unsere Partner wie für uns selbst. Verantwortbar ist dies erst, wenn sichergestellt ist, dass Afghanistan aus eigener Kraft für Frieden und Sicherheit seiner Bevölkerung sorgen kann.

Mit freundlichen Grüßen
i. A. Knut Reuber-Tagesen

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