Frage an Jan Korte von Peter D. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Korte,
als Kommunalkombilöhner mit 30h/Woche und einer gleichartig beschäftigten Frau mit 32h/Woche, plus tägliches Zeitungsaustragen (ab 3 Uhr) und etlichen weiteren ehrenamtlichen Aktivitäten, die oftmals bis in den Abend (also 22 Uhr) gehen, bekommen wir als 2 Personenhaushalt immer noch etwa 70€ vom "Amt" um unser "sozialistisch, dekandentes" Leben, wie Herr Westerwelle meint, zu genießen.
Wir fühlen uns persönlich diffamiert und beleidigt, in unserer verfassungsmäßig garantierten Würde aufs tiefste verletzt, von diesen offensichtlich realitätsfernen Interpretationen des HartzIV-Lebens durch den Aussenminister und anderen gleichklingenden Tiraden! Telefonisch habe ich mich darüber bereits in der regionalen FDP-Zentrale beschwert, nur noch keine Reaktion erhalten.
Der tägliche, flüchtige Blick auf die Schlagzeilen der BILD-Zeitung bzgl. HartzIV beim Zeitungsstand oder Bäcker machen mich wütend. Die Erweiterung des Problems auf Migranten (am heutigen Fr 19.2.) erschüttert mich und erinnert an Kampagnen des Naziterrors vor 80 Jahren. Ich empfinde deshalb auch physische Furcht. Wie können wir gegen diese gefährliche Meinungsmache vorgehen? Wie können wir dafür sorgen, dass wir in diesem hochindustrialisiertem Land endlich erkennen, das für eine gewisse Gruppe Menschen einfach keine Arbeit da ist? Das Verhältnis händischer und intellektueller Arbeit zu Verwaltung und Beamtentum ist doch vollkommen aus den Fugen. Die Lösungen für vernünftiges menschliches, soziales Zusammenleben, wie sie FDP, CDU/CSU, SPD und auch Grüne ausleben, entstammen doch einer Gedankenwelt des Kapitalismus, einer zuendegehenden Epoche?
Was können wir tun, um die geistige Vereinfachung, die Resignation und Lethargie, die Isolation, den Rückzug der Menschen unserer Heimat aufzuhalten und in positive Zukunftsbahnen lenken?
Wie können wir endlich vernünftige Löhne in den o.g. Beschäftigungssituationen erreichen?
Mit freundlichen Grüßen
Peter Dziubek
Sehr geehrter Herr Dziubek,
vielen herzlichen Dank für Ihre Anfrage zu den Äußerungen von Außenminister Westerwelle. Ich kann Ihre Empörung und Sorgen über die in der Tat diffamierenden Anfeindungen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen gut verstehen. Es besteht die reale Gefahr, dass Westerwelle mit seinen antisozialen Äußerungen bei etlichen ArbeitnehmerInnen auf Zustimmung stößt und dadurch die, die wenig verdienen, gegen die aufhetzt, die mit Sozialleistungen noch weniger zum Leben haben. Damit stellt sich Westerwelle gegen ein wesentliches Element unserer Verfassung - das Sozialstaatsgebot. Dies ist in keinster Weise hinnehmbar.
Hinter Westerwelles Beleidigung von rund 7 Millionen Hartz-IV-Leistungsbeziehenden in Deutschland – darunter 1,4 MillionenVollerwerbstätige – lauert die offene Aufkündigung gesellschaftlicher Solidarität. Wie man sich mit 359 Euro einen dekadenten Lebenswandel finanzieren kann, bleibt sein Geheimnis. Die empirische Wohlfahrtsstaatsforschung hat längst nachgewiesen, dass die Bundesrepublik – entgegen dem allgemeinen Bewusstsein und den hierzulande dominierenden Medienbildern– keineswegs den »großzügigsten« europäischen Sozialstaat besitzt, sondern hinsichtlich der Leistungsgewährung im Vergleich mit den alten 15 EU-Staaten höchstens noch im Mittelfeld rangiert.
In der Sache wird die Union die Attacken von Westerwelle nutzen, um den weiteren Abbau sozialstaatlicher Leistungen vorzubereiten. Das betrifft neben Hartz IV vor allem die Gesundheitsversorgung und die Renten. Die Regierung weigert sich, die Reichen und die Großunternehmen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen. Also wird sie sich das Geld bei Arbeitslosen, Kranken und Alten holen. Die Strategie, in einer schweren Systemkrise des Kapitalismus die Lasten auf die abhängig Beschäftigten abzuwälzen und deren berechtigte Wut von den politisch Verantwortlichen ab- und gegen die Schwachen in der Gesellschaft, gegen Minderheiten und Fremde zu lenken, ist nur zu gut aus der Geschichte bekannt.
Was ist dagegen zu tun?
Ein substanzieller politischer Gegenentwurf zur Ideologie des Neoliberalismus ist lange überfällig. Viel zu lange wurde verkündet, dass es keine Alternative gebe. Eine politische Position kann jedoch niemals alternativlos sein. Der Neoliberalismus profitiert von politischer Enttäuschung und sozialer Apathie, von „Parteienverdrossenheit" und widerspruchslosem Privatismus, wo es um die aktive Mitwirkung an der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse geht. Neoliberale Politik lebt geradezu von gesellschaftlicher Lethargie, politischem Desinteresse, sozialer Demobilisierung, demokratischer Enthaltsamkeit, kurz: von der Leblosigkeit der Demokratie.
Eine lebendige Demokratie ist jedoch zur politischen Verwirklichung von Werten wie Freiheit und Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, Autonomie und Partizipation unerlässlich. Wir brauchen also dringend mehr Demokratie, mehr Einmischung und Engagement. Um die Verdrossenen, Hoffnungslosen und Verzweifelten zu erreichen und wieder zu mobilisieren, müssen wir konkrete Ziele formulieren. Denn um wieder Mut zu schöpfen und sich den herrschenden Verhältnissen entgegenzustellen, braucht man ein erreichbares lohnendes Ziel vor Augen. Uns muss es also darum gehen eine konkrete Utopie zu entwickeln.
Der grundlegende Ansatz der LINKEN ist, die gesellschaftlichen Bedingungen so zu ändern, dass die gleichberechtigte Emanzipation aller Menschen möglich ist. Konkrete Ansatzpunkte für eine solche – gerechte – Politik sind u.a.:
• Wirtschaftsdemokratie: Ausweitung des Einflusses der Beschäftigten und der Politik auf den Wirtschaftsablauf;
• Eine gerechtere Verteilung des erarbeiteten Reichtums;
• Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand;
• Ausweitung der Reichweite der sozialen Sicherungssysteme;
• Einführung einer bedarfsdeckenden Mindestsicherung.
Zuversichtlich stimmt mich, dass viele Menschen, so wie offenbar auch Sie, die herrschenden Verhältnisse nicht länger hinzunehmen bereit sind.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns alles Gute,
Jan Korte