Warum wurde die schwerwiegende Erkrankung ME/CFS bisher nicht in die GdB-Tabelle der VersMedV zur angemessenen Anerkennung einer Behinderung aufgenommen und werden Sie dies nun tun?
Die schwerwiegende Multisystemerkrankung ME/CFS ist weiterhin eine stille humanitäre Katastrophe in Deutschland. Es fehlt leider weiterhin völlig an Versorgung, weitgehend an Forschung, völlig an Anerkennung und es kommt weiterhin keine Hilfe bei den vielen Erkrankten an. Im Bereich Anerkennung der Behinderung hätte längst eine sehr relevante Verbesserung umgesetzt werden können, indem ME/CFS in die VersMedV als eigenständige Krankheit angemessen aufgenommen worden wäre und die anerkannte Bell-Skala zur Einordnung der Krankheitsschwere benutzt würde. Dies hätte mit geringem Aufwand für deutlich mehr Gerechtigkeit und weniger Streit mit Behörden und Sozialgerichten bei der Anerkennung geführt. ME/CFS als eigenständige Krankheit wird von unkundigen Gutachtern oft ignoriert und stattdessen lediglich das unspezifische Fatigue-Syndrom völlig unangemessen berücksichtigt. Sie könnten leicht einen Beitrag zur Verbesserung der dramatisch schlechten Situation leisten. Werden Sie nun handeln?

Sehr geehrter Herr A.,
vielen Dank für Ihre Frage. Da Sie sich auf meine Aufgaben als Bundesministerin für Arbeit und Soziales beziehen, antworte ich Ihnen nicht in meiner Funktion als Abgeordnete, sondern als Mitglied der Bundesregierung sowie dank der Zuarbeit der Bundesverwaltung:
Bei der Myalgischen Enzephalomyelitis bzw. dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) handelt es sich in der Tat um eine schwerwiegende Erkrankung, unter der viele Menschen leiden und die diese Menschen in ihrer Teilhabe teils sehr schwer beeinträchtigt. Da bin ich ganz bei Ihnen.
Und Sie haben auch Recht, dass ME/CFS in der aktuell gültigen Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) kein bestimmter Grad der Behinderung (GdB) in einer Tabelle zugeordnet. Stattdessen wird auf die so genannte Analogbegutachtung verwiesen - wie bei anderen Erkrankungen, die Menschen ganz unterschiedlich in ihrer Teilhabe einschränken können.
All diese Erkrankungen können bereits heute sachgerecht bewertet werden, denn für die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung sowie des GdB sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsbeeinträchtigungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu bewerten. Der GdB bildet also das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung ab. Mit anderen Worten: Grundlage für die versorgungsmedizinische Begutachtung und die Bewertung des GdB ist die Auswirkung einer behinderungsbedingten Funktionsbeeinträchtigung auf die Teilhabe, nicht eine bestimmte Diagnose. Je stärker die Teilhabe beeinträchtigt ist, desto höher ist der GdB und dies ganz unabhängig von der Diagnose.
Die VersMedV gibt eindeutige Kriterien vor, wie vorzugehen ist, wenn Gesundheitsstörungen dort nicht explizit genannt sind. Der versorgungsärztliche Gutachter muss in diesen Fällen die bereits erwähnte Analogbegutachtung durchführen, d. h. das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen bewerten. Hierbei hat er alle körperlichen, geistigen, seelischen und Sinnesbeeinträchtigungen im Einzelfall zu berücksichtigen. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Gesundheitsstörungen, die in der VersMedV nicht namentlich aufgeführt sind, ist damit ausgeschlossen.
Sehr geehrter Herr A., wie Sie vielleicht wissen, war ich bis 2021 als stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende u.a. für die Gesundheitspolitik zuständig und weiß um das große Leid der ME/CFS-Betroffenen. Deshalb ist es mir wichtig, dass CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag die Stärkung der Versorgung und der Forschung zu u.a. ME/CFS vereinbart haben. Und der Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizinische Begutachtung bei meinem Bundesministerium für Arbeit und Soziales arbeitet aktuell an der Überarbeitung der VersMedV und berät auch über die künftige Begutachtung von ME/CFS.
Sie können mir glauben: Wir sehen die dramatische Lebenslage der Betroffenen.
Ich wünsche Ihnen auch ganz persönlich alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen
Bärbel Bas