Die UN sieht in Gaza Anzeichen für Genozid, Netanyahu lehnt einen Palästinenserstaat ab. Wann wird die deutsche Politik endlich handeln?
Die Vereinten Nationen haben heute erneut festgestellt, dass Israel sehr wahrscheinlich einen Genozid an den Palästinensern begeht. Gleichzeitig bekräftigt Ministerpräsident Netanyahu, dass es niemals einen palästinensischen Staat geben werde. Wann wird die Politik endlich anerkennen, was hier vor sich geht? Es kann nicht sein, dass die deutsche Bevölkerung in ihrer Einschätzung der Lage bereits weiter ist als diejenigen, die politische Verantwortung tragen. So kann es doch nicht weitergehen.
Genozid (Reuters) https://www.reuters.com/world/middle-east/un-inquiry-finds-top-israeli-officials-incited-genocide-gaza-2025-09-16/
Westbank (Reuters) https://www.reuters.com/world/middle-east/netanyahu-signs-west-bank-settlement-expansion-plan-rules-out-palestinian-state-2025-09-11/
Sehr geehrter Herr G.,
vielen Dank für Ihre Frage und für den Mut, sie in dieser Klarheit zu stellen.
Vorab möchte ich kurz betonen: Die folgende Antwort bezieht sich auf eine sehr schwierige und emotional aufgeladene Frage. Ich möchte sie mit größtem Respekt gegenüber allen Betroffenen beantworten – und auf Grundlage des Völkerrechts, nicht aus parteipolitischer Perspektive. Es geht mir um Menschlichkeit, Verantwortung und Recht. Ich weiß, dass die Frage aus tiefer Betroffenheit gestellt wird – aus Empörung über das unermessliche Leid, das wir täglich in Gaza sehen, und aus dem Wunsch nach Gerechtigkeit und Verantwortung. Sie ist auch nicht als Relativierung zum schrecklichen Massaker der terroristischen Hamas vom 7. Oktober 2023 gegen Israel und seine Menschen zu verstehen.
Ich möchte ganz offen sagen: Die Bewertung, ob die Handlungen Israels in Gaza den Tatbestand des Völkermords erfüllen, ist eine juristische Frage. Sie kann nur von den zuständigen internationalen Gerichten – dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) – verbindlich entschieden werden.
Der IGH hat im Verfahren Südafrika gegen Israel bislang kein abschließendes Urteil gefällt, aber einstweilige Anordnungen erlassen. Darin verpflichtet er Israel, alles zu unterlassen, was zu einem Völkermord beitragen könnte, und alles zu tun, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Das ist kein Schuldspruch, aber ein sehr ernstes Signal: Die internationale Gemeinschaft sieht die Gefahr, dass Grenzen überschritten werden, die nie hätten überschritten werden dürfen.
Auch die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen hat in ihrem jüngsten Bericht darauf hingewiesen, dass es Indizien für Völkermordhandlungen gibt. Zahlreiche humanitäre Organisationen – darunter Amnesty International, Human Rights Watch und Ärzte ohne Grenzen – dokumentieren schwerste Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter gezielte Angriffe auf Zivilisten, die Blockade lebensnotwendiger Güter und die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur.
Diese Fakten sprechen eine klare Sprache: In Gaza geschieht ein massiver Bruch des Völkerrechts. Menschenrechte werden mit Füßen getreten, und die Zivilbevölkerung zahlt einen unvorstellbaren Preis. Man braucht kein juristisches Urteil, um zu erkennen, dass dieses Leid unerträglich ist und sofortige Maßnahmen zur Unterbindung einfordert.
Gleichzeitig halte ich es für richtig, die juristische Einordnung – ob es sich um einen Genozid handelt – den Gerichten zu überlassen. Das ist kein Ausweichen, sondern Ausdruck des Respekts vor dem internationalen Recht. Diese Verfahren sind mühsam, aber sie sind notwendig, um Schuld rechtssicher festzustellen und individuelle Verantwortung zu klären – und nicht ganze Bevölkerungen pauschal zu verurteilen.
Was aber außer Frage steht, ist: Es gibt schwere Völkerrechtsbrüche und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die ich als außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion immer klar und scharf verurteilt habe.
Am Ende geht es für mich nicht um Schlagworte, sondern um Menschlichkeit. Jedes Leben zählt. Jedes Kind, das stirbt, ist eines zu viel. Jeder Mensch, der in Angst lebt, hat ein Recht auf Schutz und Würde.
Deshalb habe ich wiederholt sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Politik von Aushungern und Vertreibung in Gaza und eine Politik der Annexion in der Westbank – betrieben von der in Teilen rechtsextremen Regierung von Netanjahu – inakzeptabel ist.
Aus dem Grund begrüße ich das erzielte Abkommen aus der vergangenen Woche und den damit begonnenen Waffenstillstand. Es darf keine Gewalt und Vertreibung mehr geben, die sofortige Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza durch humanitäre Güter über UN-Organisationen muss erfolgen, so auch die Freilassung der Geiseln und Entwaffnung der Hamas.
Der 20-Punkte-Plan kann – wenn er vollständig und unter Einhaltung des Völkerrechts umgesetzt wird – ein Ausgangspunkt für wichtige Entspannung und eine Perspektive für nachhaltige Stabilität sein. Er ist eine Chance, aber keine Garantie. Das erzielte Abkommen kann nur funktionieren, wenn er nicht als taktischer Waffenstillstand missbraucht wird, sondern als Beginn eines echten politischen Prozesses mit neuer Dynamik für eine Zweistaaten-Lösung.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen meine Position näherbringen. Bei Rückfragen wenden Sie sich gerne wieder an mein Team und mich.
Mit freundlichen Grüßen
Adis Ahmetovic, MdB

