Kontakt mit Großkonzern

Kanzleramt verheimlichte Lobby-Dokumente

Zu Kontakten mit einem großen Stahlkonzern gebe es keine Unterlagen, behauptete das Kanzleramt lange Zeit gegenüber abgeordnetenwatch.de. Doch das war die Unwahrheit, wie die Regierung jetzt in einem Gerichtsverfahren einräumen musste. Es ist nicht das erste Mal, dass Informationen angeblich nicht existierten – plötzlich aber doch auftauchten. 

von Martin Reyher, 05.04.2024
Sigmar Gabriel, Jörg Kukies, Olaf Scholz und Ausriss von Gabriel-Mail an Kukies
Eine Mail, die es angeblich nicht gab: Im Juni 2022 kontaktierte Stahllobbyist Sigmar Gabriel den "lieben Jörg" Kukies, einen Vertrauten von Bundeskanzler Scholz, mit einer Bitte.

An einem Morgen im Juni 2022 meldet sich ein Lobbyist per E-Mail bei einem guten Bekannten im Bundeskanzleramt und hat Redebedarf. "Lieber Jörg", schreibt der Lobbyist an einen Vertrauten von Bundeskanzler Olaf Scholz. “Vielleicht können wir einmal telefonieren, bevor ich am 5.7. mein Gespräch mit Olaf dazu habe.” 

Diese Mail gibt es eigentlich nicht, zumindest behauptete das lange Zeit das Bundeskanzleramt. Doch nun ist sie plötzlich aufgetaucht: in einem Gerichtsverfahren.

Seit Monaten tragen abgeordnetenwatch.de und das Kanzleramt vor dem Berliner Verwaltungsgericht einen Rechtsstreit aus. Dabei geht es um Lobbykontakte von Kanzler Olaf Scholz (SPD), dem “Olaf” aus der Mail, sowie dessen wirtschaftspolitischem Berater Jörg Kukies im Sommer 2022. Der Lobbyist, der sich in vertrautem Ton an den "lieben Jörg" wandte, ist kein geringerer als Sigmar Gabriel. Der frühere SPD-Minister und Vize-Kanzler öffnet inzwischen dem Stahlkonzern ThyssenKrupp Steel die Türen zur Bundesregierung.

Keine Dokumente? Wenig glaubhaft

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Im Oktober 2022 beantragte abgeordnetenwatch.de beim Kanzleramt Einblick in “sämtliche Aufzeichnungen inkl. etwaiger Kalendereinträge” zu den Kontakten von Scholz und Staatssekretär Kukies mit Gabriel. In der Regierungszentrale machte man sich auf die Suche, doch fündig wurde man angeblich nicht. Es "existieren [...] keine entsprechenden Aufzeichnungen”, antwortete die Behörde. Unser Antrag, den wir auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) gestellt hatten, sei daher abzulehnen.

Staatssekretär Jörg Kukies, Olaf Scholz
Angeblich keine Unterlagen zu Lobbyterminen mit einem bekannten Lobbyisten von Thyssenkrupp Steel: Staatssekretär Jörg Kukies und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)

abgeordnetenwatch.de reichte Klage ein. Dass bei einem Termin des Bundeskanzlers und eines Staatssekretärs weder ein Kalendereintrag noch andere Unterlagen existieren, schien wenig glaubhaft.

Nun zeigt sich: Die Skepsis war begründet.

Gegenüber dem Gericht zauberte das Kanzleramt nämlich Unterlagen aus dem Hut, deren Existenz es zuvor bestritten hatte. Die Dokumente seien bei einer neuerlichen Recherche im Rahmen des Gerichtsverfahrens aufgetaucht, schrieb das Kanzleramt ans Verwaltungsgericht. Man werde die Kosten des Verfahrens übernehmen, sofern abgeordnetenwatch.de die Klage fallen lasse. (Anmerkung der Redaktion: abgeordnetenwatch.de erhält seine Klage aufrecht).

Kurzer Draht ins Kanzleramt

Der späte Fund ist erstaunlich. Seit 2021 verfügt das Bundeskanzleramt über ein leistungsfähiges elektronisches Akten- und Dokumentationssystem. Zweck der sogenannten “e-Akte” ist, Unterlagen nicht nur rechtssicher und gesetzeskonform aufzubewahren, sondern auch leicht aufzufinden.

Bei den Dokumenten, die das Kanzleramt in dem Gerichtsverfahren eher beiläufig präsentierte, handelt es sich um die oben erwähnte E-Mail sowie interne Korrespondenzen aus der Regierungszentrale.

Die Unterlagen sind erhellend. Sie zeigen, wie leicht ein Milliardenkonzern Zugang zur Spitze der Bundesregierung erhält. Was es dafür braucht, sind gut vernetzte Leute. Leute wie Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel
Lobbyist mit gutem Draht ins Kanzleramt: Thyssenkrupp Steel-Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel

Der langjährige Wirtschafts- und Außenminister ist mittlerweile für mehrere Unternehmen tätig. Bei der Deutschen Bank und Siemens Energy sitzt er im Aufsichtsrat. Bei Thyssenkrupp Steel ist Gabriel seit 2022 Vorsitzender des Aufsichtsrates. Das jedenfalls ist seine offizielle Funktion. Inoffiziell, das zeigen die jetzt aufgetauchten Unterlagen, ist Gabriel Lobbyist und Türöffner des Duisburger Stahlriesen.

“Meine Sorgen sind eher größer geworden”

Als Gabriel am 22. Juni 2022 seinen Bekannten Jörg Kukies im Kanzleramt kontaktiert, ist er in Alarmstimmung. “Ich habe eben von Eurem Gespräch mit den Stahl-Vertretern gehört”, schreibt Gabriel. “Um es offen zu sagen: meine Sorgen sind eher größer als kleiner geworden.” Gabriel möchte deshalb mit Kukies telefonieren.

Der Kontext des Schreibens ist unklar. Doch die Mail legt nahe, dass Gabriel zuvor eine Mail mit erfreulichem Inhalt von Kukies erhalten hat. Denn Gabriel antwortet: “Das ist sehr nett. Vielen Dank.” Worauf sich Gabriels Dank bezieht, ist nicht bekannt – Kukies Mail wurde vom Kanzleramt nicht herausgegeben.

Gabriel-Mail an Staatssekretär Kukies: "Lieber Jörg, das ist sehr nett. Vielen Dank. Ich habe eben von Eurem Gespräch mit den Stahl-Vertretern gehört. Um es offen zu sagen: meine Sorgen sind eher größer als kleiner geworden, Vielieicht können wir noch einmal telefonieren/ bevor ich am 5.7. mein Gespräch mit Olaf dazu habe. Beste Grüße, Sigmar"
"Vielleicht können wir noch einmal telefonieren, bevor ich am 5.7. mein Gespräch mit Olaf dazu habe": Mail von Sigmar Gabriel an den Scholz-Vertrauten Kukies

“Nicht vorhandene” Informationen haben im Kanzleramt Tradition

Zwei Wochen später hat Gabriel einen Termin bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Es ist das Treffen, zu dessen Vorbereitung Gabriel mit Kukies telefonieren wollte. Im Kanzleramt beteuert man, dass ein solches Telefonat nicht stattgefunden hat.

Zurück zu Gabriels Mail, die zunächst nicht auffindbar war, als man sich Ende 2022 auf die Suche begab. Man könnte das für ein Versehen halten: Dokumente, die in einer Akte übersehen werden – so etwas kann vorkommen.

Darüber ließe sich hinwegsehen, wenn es ein Einzelfall wäre. Doch im Bundeskanzleramt gibt es eine gewisse Tradition, was “nicht vorhandene” Unterlagen oder Informationen angeht.

Der pikante Vermerk, der angeblich nicht existierte  

Nicht auffindbar war im Kanzleramt zum Beispiel ein interner Vermerk, der die enge Verquickung von Politik und Autolobby belegte. Das Dokument war in der bayerischen Staatskanzlei entstanden und von dort ans Kanzleramt geschickt worden. Man übermittle die „wichtigsten Forderungen der BMW Group” und bitte „eindringlich”, strengere Abgasregeln auf EU-Ebene zu verhindern, schrieb die Staatsregierung des damaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) 2016 in bemerkenswerter Offenheit.

An der Existenz des Vermerks konnte kein Zweifel bestehen. Die Süddeutsche Zeitung, der das Papier vorlag, hatte ausgiebig daraus zitiert. Doch gegenüber abgeordnetenwatch.de behauptete das Kanzleramt, man sei in den Akten nicht fündig geworden.

Die Unterlagen rückte die Behörde erst raus, als abgeordnetenwatch.de sich den Vermerk anderweitig besorgte und das Kanzleramt damit konfrontierte. Als hilfreich erwies sich auch, dass der damalige STERN-Journalist Hans-Martin Tillack unter der Überschrift “Wie dumm darf man sich im Kanzleramt eigentlich stellen?” über die offensichtliche Lüge berichtete.

Kanzleramt tischte drei verschiedene Versionen auf

Und damit wären wir ein weiteres Mal bei Sigmar Gabriel und seinen Lobbyaktivitäten im Kanzleramt. Denn auch in seinem Fall stellte sich die Regierungszentrale zunächst unwissend. Worüber Gabriel bei dem erwähnten Treffen im Juli 2022 mit Olaf Scholz sprach? Im Kanzleramt hatte man angeblich keine Ahnung. “Dem Kanzleramt liegen zu dem Gesprächsinhalt keine Informationen vor”, behauptete ein Regierungssprecher im Sommer 2022 auf Anfrage.

Einige Wochen später zeigte sich, dass das die Unwahrheit war. Mit einem Mal konnte das Kanzleramt sehr wohl Informationen vorweisen: Thema der Unterhaltung von Gabriel und Scholz sei die “deutsche Stahlindustrie” gewesen, hieß es nun. (Zwischenzeitlich hatte das Kanzleramt sogar noch eine weitere Version aufgetischt: Kanzler und Lobbyist hätten sich zu einem “allgemeinen Austausch” verabredet.) 

Gabriels Lobbykontakte

  • 7. April 2022: Sigmar Gabriel wird Vorsitzender des Aufsichtsrats der Thyssenkrupp Steel Europe AG. Am selben Tag telefoniert er mit Jörg Kukies, dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Thema: „ThyssenKrupp/Herrenknecht“.
  • 2. Mai 2022: Treffen mit Kukies im Kanzleramt, Thema: „Stahlindustrie“
  • 17. Mai 2022: Telefonat mit Kukies, Thema: „Auswirkungen Änderung EU-Emissionshandelssysteme“
  • 19. Mai 2022: Weiteres Telefonat mit Kukies, Thema: „Förderung ausländischer Investitionen“ in Deutschland
  • 5. Juli 2022: Treffen mit Olaf Scholz im Kanzleramt, Thema: „allgemeiner Austausch“
  • 19. Juli 2022: Telefonat mit Kukies, Thema: „Stahlindustrie/Wiederaufbau UKR“
  • 5. Dezember 2022: Zweites Treffen mit Scholz, Thema: „Deutsche Stahlindustrie“
  • 13. Dezember 2022: Telefonat mit Kukies zur „Zukunft der Stahlindustrie“
  • 21. Dezember 2022: Treffen mit Robert Habeck, Thema: „allgemeiner Austausch“
  • 7. April 2023: Telefonat mit Kukies, „allgemeiner Austausch“
  • 14. April 2023: Telefonat mit Staatssekretär Udo Philipp (BMWK), Thema: „Beihilfen des Bundes für Thyssenkrupp Steel Europe AG“
  • 12. Juni 2023: Telefonat mit Kukies, Thema: „Grüner Stahl“
  • 17. August 2023: Weiteres Telefonat mit Kukies, Thema: „Energiekosten in Deutschland“

Quelle: Angaben der Bundesregierung

Dokumente im Giftschrank

Warum behauptet das Kanzleramt (und auch andere Behörden), dass Unterlagen oder Informationen nicht existieren – obwohl sie zweifelsfrei vorhanden sind?

Es gibt dafür eine naheliegende Erklärung. Vor einigen Jahren räumte ein Regierungsbeamter gegenüber dem SPIEGEL ein, was in Berlin ein offenes Geheimnis ist: Manche Dokumente finden gar nicht mehr den Weg in die offiziellen Akten.

Die Ministeriumsspitze sortiere Unterlagen gerne mal aus und deponiere sie an einem anderen Ort, verriet der Beamte, der namentlich nicht genannt werden wollte. „Es gab immer einen Giftschrank im Ministerium, aber der ist mit dem IFG größer geworden.” Manche Kolleg:innen gingen noch weiter: Sie würden brisante Vorgänge gar nicht mehr verakten – aus Furcht vor Anträgen nach dem Informationsfreiheitsgesetz.

Christian Lindner und die Porschegate-SMS

Bundesfinanzminister Christian Lindner beim Powertalk im Rahmen des 24. Deutschen Eigenkapitaltag in der Hauptstadtrepraesentanz der Deutschen Telekom, Berlin, 25.05.2023
"Geringe inhaltliche Relevanz": Lindners SMS-Austausch mit Porsche-Chef Blume wurde vom Finanzministerium nicht veraktet

Einige Ministerien geben inzwischen sogar offen zu, wenn sie Dokumente nicht veraktet haben, so zum Beispiel das Bundesfinanzministerium (BMF). Vergangenes Jahr beantragte abgeordnetenwatch.de dort die SMS-Korrespondenz zwischen Minister Christian Lindner (FDP) und Porsche-Chef Oliver Blume, die als “Porschegate” Schlagzeilen machte.

Das BMF verweigerte die Herausgabe. Dies, so das Ministerium, liege aber keineswegs an der Brisanz der Kurznachrichten, sondern im Gegenteil: Was Lindner und der Autolobbyist sich zum Thema eFuels hin und her geschrieben hätten, sei in Wirklichkeit von “geringfügiger inhaltlicher Relevanz“.

So irrelevant, dass man keine Notwendigkeit sah, den Austausch zwischen Minister und Lobbyist zu verakten.


Wie Sigmar Gabriel mit einem weiteren Anliegen im Kanzleramt abblitzte

In den jetzt aufgetauchten Unterlagen findet sich ein weiteres Anliegen, das Stahllobbyist Gabriel im Kanzleramt vortrug. Seine Mail an Staatssekretär Jörg Kukies nutzte Gabriel, um Probleme bei den “Hüttenwerken Krupp Mannesmann” anzusprechen. Das Unternehmen befindet sich im Eigentum von Thyssenkrupp Steel (50 Prozent), der Salzgitter Mannesmann GmbH (30 Prozent) und dem Deutschland-Ableger der französischen Vallourec-Gruppe (20 Prozent). 

Gabriel berichtete, die Franzosen wollten sich aus dem Gemeinschaftsprojekt zurückziehen. Aber weder Thyssenkrupp noch Mannesmann seien gewillt, die Hüttenwerke in Eigenverantwortung zu übernehmen. “Auch dazu gern mehr mündlich”, schrieb Gabriel an Kukies. 

Auf Unterstützung aus dem Kanzleramt konnte Gabriel damals offenbar nicht zählen. In einer internen Mail, die die Behörde nun ebenfalls an abgeordnetenwatch.de herausgegeben hat, schreibt ein Beamter an die Büroleiterin von Staatssekretär Kukies: “Uns [erscheint es] ein wenig verwunderlich, dass der Ausstieg des Minderheitseigners (Vallourec 20%) nicht durch die Mehrheitsgesellschafter (TK Steel 50% und Salzgitter 30%) aufgefangen werden kann.” Die beiden Konzerne seien nun “gefordert, das Unternehmen neu zu strukturieren und ggf. einen weiteren Anteilseigner zu finden.”

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