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Rita Schwarzelühr-Sutter
SPD
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Frage von Peter B. •

Was tun Sie um Menschen aus Afghanistan nach Deutschland zu holen? Wie steht es um die Menschen außerhalb Kabuls? Und es geht nicht nur um die direkten Helfer:innen, sondern auch um deren Familien.

Sehr geehrte Frau Schwarzelühr-Sutter,

was tun Sie konkret, um den Menschen aus Afghanistan herauszuhelfen? Die deutsche Botschaft genauso wie zahlreiche Expert:innen, Journalist:innen und NGOs warnten vor dem schnellen Vorgehen der Taliban. Jetzt steht nur Kabul im Mittelpunkt, obwohl das Land groß ist und im ganzen Land Menschen festsitzen. Es geht nicht nur um die direkten Helfer:innen vor Ort, sondern auch um deren Familien. Nicht nur Kinder, Eheleute, sondern auch Eltern und Geschwister. In unserem Landkreis ist bereits mindestens eine afghanische Ortskraft der Bundeswehr eingetroffen. Gerne würde diese direkt betroffene Person mit Ihnen über diese Thematik sprechen. Ist das möglich? Wenn nicht, was kann ich dieser Person sagen? Er fürchtet um seine Geschwister und seine Mutter, da die Taliban die Familie nach dem Sohn fragen wird. Ich würde gerne antworten, dass der Bundesregierung das Schicksal der Familie nicht egal ist.

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Buda,

 

vielen Dank für Ihre E-Mail. Die Lage in Afghanistan besorgt uns sehr. Für kaum ein anderes Land hat Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten so große Verantwortung übernommen — militärisch, diplomatisch und entwicklungspolitisch. Zwar haben wir das zentrale Ziel unseres Afghanistan-Engagements — die Bekämpfung der von Afghanistan ausgehenden internationalen terroristischen Bedrohung — zumindest vorerst erreicht. Am Aufbau eines funktionierenden Sicherheitssektors und stabiler staatlicher Strukturen, die die Lage der Bevölkerung dauerhaft verbessern und Menschenrechte achten, sind wir jedoch gescheitert. Diese Erkenntnis ist bitter und schmerzhaft

 

Umso wichtiger ist unser klares Bekenntnis, dass wir Afghanistan und seine Menschen jetzt nicht allein lassen. Durch die Luftbrücke von Kabul nach Taschkent und weiter nach Deutschland konnten wir in wenigen Tagen über 5.200 Menschen aus Afghanistan evakuieren. Neben 529 Landsleuten waren darunter über 4.300 Afghaninnen und Afghanen, fast die Hälfte davon Frauen und Mädchen. Zudem konnten wir über 400 Staatsangehörige aus EU- und weiteren Drittstaaten auf unseren Flügen in Sicherheit bringen, andere Partner wiederum Dutzende Deutsche ausfliegen.

 

Angesichts des Abzugs der US-amerikanischen militärischen Kräfte vom Flughafen Kabul konkreter terroristischer Anschlagswarnungen gegen den Flughafen und die dort eingesetzten internationalen Kräfte sowie ausreisewillige Menschen, die sich leider bereits manifestiert haben, hat die Bundesregierung in Absprache mit unseren Partnern entschieden, die militärische Evakuierungsaktion am 26. August zu beenden.

 

Mit dem Ende des militärischen Evakuierungseinsatzes endet jedoch nicht unser Engagement, verbliebene deutsche Staatsangehörige, ehemalige Ortskräfte und andere besonders schutzbedürftige Personen nach Deutschland zu holen. Dies wird alles andere als einfach. Aber wir sind fest dazu entschlossen — das gebietet unsere Verantwortung für sie.

 

Erste Äußerungen der Taliban uns gegenüber deuten darauf hin, dass die individuelle Ausreise aus Afghanistan für Inhaber ausländischer Pässe und Afghaninnen und Afghanen mit gültigen Ausweispapieren möglich sein könnte. Dies soll für den Landweg und nach Wiederaufnahme des zivilen Flugverkehrs mittelfristig auch für den Luftweg gelten. Hierzu sind wir weiter mit den Taliban, aber auch mit den Nachbarstaaten in intensiven Gesprächen.

 

Aktuell befindet sich Bundesaußenminister Maas in der Region, um über diese Fragen mit den Kollegen in Tadschikistan, Usbekistan und Pakistan zu sprechen. Es geht darum, wie wir als internationale Gemeinschaft jetzt mit Afghanistan umgehen — und unter welchen Bedingungen wir mit einer neuen Regierung Absprachen treffen können.

 

Für Personengruppen, die noch kein Visum haben und mangels deutscher konsularischer Präsenz in Afghanistan auf die Erteilung an unseren Auslandvertretungen in andern Staaten angewiesen sind, schaffen wir schnelle, unbürokratische Lösungen. Alle Ortskräfte, die seit 2013 für deutsche Stellen gearbeitet haben, können nun berücksichtigt werden. Sie können Gefährdungsanzeigen bei ihren früheren Arbeitgebern stellen und erhalten bei positivem Ergebnis in einem einfachen, beschleunigten Verfahren ein Visum.

 

Auch gegenüber Afghaninnen und Afghanen aus Zivilgesellschaft, Medien, Wissenschaft, Kunst und Kultur, die die Bundesregierung bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat und denen wir eine Ausreise mit der Bundeswehr in Aussicht gestellt hatten, stehen wir im Wort. Sie sollen von uns eine Aufnahmezusage bekommen, mit der sie bei unseren Botschaften in den Nachbarstaaten schnell und unkompliziert Einreisepapiere für Deutschland erhalten.

 

Damit dies zügig erfolgt, verstärken wir unsere Visastellen und Konsularteams in den Nachbarstaaten Afghanistans. Auch unser Krisenreaktionsteam und der Telefonpool, die in den letzten Tagen mit über 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rund um die Uhr Anrufe entgegengenommen, Einzelfälle bearbeitet und Evakuierungen geplant und begleitet haben, werden ihre Arbeit fortsetzen.

 

Wir haben ferner bestehende Programme für besonders gefährdete afghanische Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Menschenrechtsorganisationen um zusätzliche 10 Millionen Euro aufgestockt. Damit finanzieren wir zum Beispiel vorübergehende Schutzaufenthalte sowie Stipendien. Nicht zuletzt hat Deutschland bereits 100 Millionen Euro humanitäre Soforthilfe für Geflüchtete in und aus Afghanistan zur Verfügung gestellt — weitere 500 Millionen Euro sind eingeplant. Mit diesem Geld sollen internationale Hilfsorganisationen unterstützt werden, darunter das VN-Flüchtlingshilfswerk, das Internationale Rote Kreuz sowie das Welternährungsprogramm, um geflüchteten Menschen in Afghanistan und den Nachbarländern zu helfen.

 

Parallel stimmen wir uns bereits jetzt eng ab mit Partnern in der Region und mit Ländern, die besonderen Einfluss in Afghanistan haben, um gemeinsam sicherzustellen, dass Afghanistan nicht erneut zu einer Bedrohung für die internationale Sicherheit wird. Es führt dabei kein Weg daran vorbei, auch Absprachen mit den Taliban zu treffen: Nicht nur, um eine sichere Ausreise zu schützender Personen zu ermöglichen, sondern auch, um die wichtigsten Errungenschaften der vergangen zwei Jahrzehnte zu wahren.

 

In unseren Gesprächen mit Vertretern der Taliban machen wir daher deutlich: Jede Zusammenarbeit mit einer künftigen afghanischen Regierung hängt von der grundlegenden Achtung der Menschenrechte und einer inklusiven Regierungsbildung ab. Wir werden die Taliban an ihren Taten messen. Zunächst aber steht nun die Ausreise der noch in Afghanistan befindlichen Deutschen, aller ausreisewilligen Ortskräfte und anderer besonders schutzbedürftiger Personen im Vordergrund.

 

Noch ist es zu früh, eine abschließende Bilanz des internationalen Afghanistan-Engagements der vergangen 20 Jahre zu ziehen. Klar ist aber: Wir müssen und werden Fehler, die international und national gemacht wurden, aufarbeiten — auch um sie in Zukunft und in anderen Einsätzen nicht zu wiederholen. Wir als Fraktion haben bereits im Juni die Einrichtung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in der kommenden Legislaturperiode gefordert. Sie soll – unter Einbeziehung von Expert:innen – das zivile, polizeiliche und militärische Engagement in Afghanistan insgesamt analysieren und bewerten sowie Vorschläge für laufende und zukünftige Friedenseinsätze formulieren. Bereits jetzt haben die zuständigen Ressorts zudem eine unabhängige Evaluierung des zivilen Engagements auf den Weg gebracht. Auch international — etwa in der NATO und in den Vereinten Nationen — werden wir uns für eine schonungslose Aufarbeitung einsetzen, so wie Generalsekretär Stoltenberg sie für die NATO bereits vorgeschlagen hat.

 

Dass sich die Bundesregierung und die Bundesministerien an Recht und Gesetz halten, ist eine Selbstverständlichkeit. Hierzu gehören die gesetzlich vorgeschriebene Aktenführung und Aktenaufbewahrungspflicht. Offenbar wollen jedoch politische Wettbewerber:innen den Eindruck verbreiten, die Bundesregierung wolle entgegen den klaren gesetzlichen Vorgaben, Akten vernichten. Der Antrag der Grünen im Auswärtigen Ausschuss zu einem sogenannten Lösch-Moratorium ist politisch motiviert. Er unterstellt gesetzeswidriges Handeln. Wir wollen eine intensive und umfassende Aufarbeitung der Mission. Wir haben keinen Zweifel daran, dass die betroffenen Bundesministerien dem Bundestag die hierfür erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen, um die nötige politische Aufarbeitung des 20-jährigen Afghanistan-Engagements Deutschlands und seiner internationalen Partner zu gewährleisten.

 

Mit freundlichen Grüßen nach Waldshut-Tiengen

 

Rita Schwarzelühr-Sutter

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