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Josef Winkler
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Yannik S. •

Frage an Josef Winkler von Yannik S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Winkler,

ich bin ein politisch interessierter Schüler an einem Gymnasium in Baden-Württemberg.
Während der Debatten um verschiedenste Themen des vergangenen Jahres stellten sich mir Fragen zur Haltung Ihrer Partei gegenüber manchen Themen.
Bitte verstehen Sie die folgenden Fragen nicht miß, ich möchte Die Grünen mit keinem der genannten Punkte kritisieren, stimme Ihnen im Gegenteil an zahlreichen Stellen zu.

1. Ihre Partei vertrat im Bezug auf die Demonstrationen gegen das Großbahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ die Meinung, dass eine durch die Repräsentanten des Volkes demokratisch gefällte Entscheidung nach einiger Zeit aufgrund in der Zwischenzeit auftretender Änderungen des Zeitgeistes zu überdenken, und eventuell neu zu fällen sei.
Bezüglich der Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken, die durch die jetzige Regierung einberufen wurde, vertraten Sie die Meinung, eine Änderung der bereits beschlossenen Gesetze sei nicht legitim. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

2. Ist die im Grunde demokratische Bundesrepublik Deutschland wegen der großen Zahl der Demonstranten nicht auf dem direkten Weg in die schon durch altgriechische Philosophen prognostizierte Ochlokratie?
Wie deckt sich das mit dem demokratischen Grundverständnis der Grünen?

3. Aus welchem Grund setzt sich Ihre Partei für, sog. alternative Energien (Wind-, Wasser-, Solarenergie) und nicht für die bezüglich der Effizienz und der Umweltverträglichkeit bei weitem erfolgversprechendere Kernfusionstechnik ein?

4. Sie stimmten gegen die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke. Warum ist es in Ihren Augen der richtige Weg, im Bezug auf CO²-Emissionen saubere Kernenergie abzuschaffen und zum Ausgleich neue, schmutzige Kohlekraftwerke in Betrieb zu nehmen? (z.B. Kraftwerk Niederaußem, z.T. gebaut unter rot/grüner Regierung in Nordrhein-Westfalen)

Da ich keine Antworten auf diese Fragen finden konnte, bitte ich Sie, mir weiterzuhelfen und verbleibe

mit freundlichen Grüßen
Yannik Stradmann

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Stradmann,

herzlichen Dank für Ihre interessanten Fragen, die ich Ihnen gerne ausführlich beantworten möchte:

In Ihrer 1. Frage nach der Möglichkeit, einmal gefällte Entscheidungen nach einiger Zeit aufgrund von - wie Sie es formulieren - „Änderungen des Zeitgeistes“ eventuell neu zu fällen, deuten Sie die Antwort schon selbst an:
Bei „Stuttgart 21“ wird ein überfälliger öffentlicher Diskurs nachgeholt. Die zahlreichen Großdemonstrationen wie auch demoskopische Umfragen zu „Stuttgart 21“ deuten auf ein erhebliches Akzeptanzdefizit bei den Bürgern hin. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die das Projekt von Anfang an begleitete, hat mit dem sichtbaren Baubeginn nochmals immens zugenommen. Zudem haben die Schlichtungsverhandlungen deutlich gezeigt, daß das Bahnhofsprojekt auch auf der Sachebene in seiner bisherigen Form nicht funktioniert (beispielsweise was die Kosten oder die verkehrliche Kapazität betrifft). Eine ernsthafte Überprüfung sowie möglicherweise auch die völlige Abkehr von den ursprünglichen Planungen ist in solchen Fällen dringend geboten. Beim schwarz-gelben Ausstieg aus dem Atomausstieg verhält es sich genau anders herum. Hier ist eine allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung bzw. eine - wie Sie es sagen - „Änderung des Zeitgeistes“ überhaupt nicht ersichtlich. Ganz im Gegenteil: Es ist eine Entscheidung gegen die Mehrheit der Bevölkerung, durch die ein unter rot-grüner Regierung befriedeter Konflikt erneut eskaliert. Hinzu kommen sachliche Aspekte, wie die völlig ungeklärte Endlagerfrage, Sicherheitsdefizite oder Wettbewerbsverzerrungen. Und schließlich ist neben der Legitimität auch die Legalität äußerst zweifelhaft und wird noch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. So wurde die Änderung des Atomgesetzes ohne die Zustimmung des Bundesrates und in irregulärer Beratung im Bundestag durchgedrückt.

Bei Ihrer 2. Frage warnen Sie im Zusammenhang mit der großen Zahl an Demonstrationen in den letzten Monaten vor dem Abgleiten in eine Ochlokratie, also eine Herrschaft der Massen, die nicht im Sinne des Gemeinwohls sondern aus Eigennutz handeln.
Meiner Meinung nach erleben wir jedoch momentan wahre Sternstunden der Demokratie - und zwar im besten Sinne. Bürgerinnen und Bürger nutzen wieder verstärkt ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Sie gehen für ihre Anliegen auf die Straße, wenn diese Anliegen von den Regierenden nicht wahrgenommen werden. Das wird bei den Protesten gegen Castor-Transporte und für den Atomausstieg deutlich, aber auch bei den Demonstrationen in „Stuttgart 21“. Den Wunsch der Bevölkerung nach mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten auch zwischen den Wahltagen nehmen wir Grüne sehr ernst. Wir bemühen uns deshalb schon seit Jahren um die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene. Es gibt sehr gute Erfahrungen mit direkter Demokratie aus den Ländern. Es muss nun auch auf Bundesebene darum gehen, direktdemokratische Prozesse zu etablieren, die den tatsächlichen Bürgerwillen widerspiegeln und das Gemeinwohl befördern. Wir haben im Blick, daß organisierte und vor allem finanzstarke Interessengruppen versuchen können, direkte demokratische Prozesse zu dominieren. Direkte Beteiligungsformen erfordern deshalb ganz besonders, daß Politiker ihre Vorhaben den Bürgerinnen erklären und sie frühzeitig einbeziehen.

Unter Punkt 3 fragen Sie nach der Haltung der bündnisgrünen Fraktion zur Kernfusionstechnik.
Ich stimme Ihnen zu, daß im Bereich der Energieerzeugung im Angesicht des Klimawandels die Forschung gefordert ist, sich stärker auf Antworten für drängende, technologisch lösbare Probleme auszurichten, die in absehbarer Zeit die Energie- und Klimaprobleme der Welt lösen. Eine Technologie, wie die Kernfusion, die seit 60 Jahren erforscht wird und noch mindestens weitere 50 Jahre Entwicklung bis zur erhofften Anwendbarkeit braucht, erfüllt diese Maßgabe nicht. Ob eine solche Technik dann irgendwann auch tatsächlich effizient wäre, ist zumindest fraglich. Eine Überprüfung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses hat es bisher nur ansatzweise gegeben. Und schließlich handelt es sich bei der Kernfusion um eine ebenso wenig saubere Technik wie die der herkömmlichen Atomkraft. Nach Auskunft des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag ist die Menge des radioaktiven Inventars in Fusionsreaktoren etwa genauso hoch wie in Kernspaltungsreaktoren derselben Leistung.

Darauf bezieht sich auch Ihre 4. Frage:
Wir lehnen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke vehement ab. Daß es sich bei dieser Technik um eine saubere, CO2-neutrale Möglichkeit der Energieerzeugung handelt, ist eine Mär. Die zahlreichen Verarbeitungsschritte, angefangen vom Uranabbau bis hin zum Brennelement (Aufbereitung des Uranerzes, Uran-Anreicherung, Transport etc.), verbrauchen selbstverständlich auch Energie. Und das nicht zu knapp. Energie, für die größtenteils fossile Brennstoffe genutzt werden. Hinzu kommen die Umwelt- und Strahlenschäden im Uran-Abbaugebiet. Das geschieht alles, bevor auch nur eine einzige Kilowattstunde Atom-Strom produziert wurde.
Und auch die Stromproduktion selbst ist überaus problematisch. Daß es sich bei Kernspaltungsreaktoren um eine unberechenbare Risikotechnologie handelt, zeigen bereits die zahlreichen meldepflichtigen Zwischenfälle der Atomkraftwerke jedes Jahr. Die Beinahe-Katastrophe im schwedischen Forsmark vom Sommer 2006 oder auch die schweren Zwischenfälle der letzen Jahre in den AKW Krümmel und Brunsbüttel haben gezeigt, wie anfällig die Technik ist und wie sorglos die AKW-Betreiber vorgehen. Abschließend sei auch noch auf die Endlager-Problematik verwiesen. Zwar wird täglich neuer Atommüll produziert, wo dieser über tausende Jahre strahlende Abfall bleiben soll, ist jedoch nach wie vor völlig offen.

Mit freundlichen Grüßen
Josef Winkler

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