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Anna Christmann
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Frage von Dieter V. •

Frage an Anna Christmann von Dieter V. bezüglich Verteidigung

Sehr geehrte Frau Christmann,

warum verstossen Sie mit Ihrer Zustimmung zum Afghanistan-einsatz der deutschen Soldaten gegen den Auftrag des Grundgesetzes, dass die Bundeswehr nur zur Verteidigung beruft? (Ggf wäre eine Ausnahme, wenn der Einsatz im Rahmen einer UNO-Mission erfolgt - dies ist aber nicht der Fall).
Die Lehre des zweiten Weltkriegs war, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf.
Wieso haben Sie sich von der früheren Linie der Grünen abgewandt, die konsequent gegen JEDEN Einsatz deutscher Soldaten im Ausland war?
Mit freundlichen Grüssen
D. V.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr V.,

vielen Dank für Ihre Frage zu diesem sehr komplexen Thema. Der Bundestag hat am 25. März dieses Jahres das Ende März ausgelaufene Mandat zur Beteiligung der Bundeswehr an der NATO-Mission „Resolute Support“ in Afghanistan um zehn Monate verlängert. In der Zwischenzeit hat sich die Situation jedoch verändert. Die NATO hat sich dazu entschlossen, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Dieser Abzug läuft seit diesem Monat und soll bis zum 11. September abgeschlossen sein.

Die Mehrheit der Abgeordneten der Grünen im Bundestag hat einer Verlängerung des Mandats nicht zugestimmt. Wir haben den Afghanistan-Einsatz, so wie er in den Jahren vollzogen wurde, insgesamt kritisch gesehen und zum Zeitpunkt der Abstimmung auch die Zukunfts- und Abzugsperspektive vermisst. Diese Kritik teile ich, habe mich aber in der Abwägung mit anderen Argumenten dennoch dazu entschieden, für eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes zu stimmen. Infolgedessen möchte ich Ihnen hiermit meine Entscheidung erklären.

Zunächst einmal muss ich jedoch klarstellen, dass einige Ihrer Aussagen nicht richtig sind. Sie schreiben, die Bundeswehr sei durch das Grundgesetz „nur zur Verteidigung berufen“. Dies ist so nicht richtig. Zwar führt Artikel 87a Absatz 1 GG tatsächlich an, dass der Bund Streitkräfte „zur Verteidigung“ aufstellt, jedoch darf der Bund Streitkräfte zur Wahrung des Friedens im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit einsetzen (siehe hierzu Artikel 24 Absatz 2 GG sowie das „Out-of-Area-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichtes).

Sie führen dann weiterhin als „Ausnahme“ an, dass ggf. Streitkräfte im Rahmen einer „UNO-Mission“ eingesetzt werden dürften. Tatsächlich erlaubt das Völkerrecht den Einsatz bewaffneter Streitkräfte auch dann, wenn die ausdrückliche Einladung bzw. Zustimmung des Staates, in dem diese eingesetzt werden sollen, vorliegt. Ich möchte Sie hierzu gerne auf Punkt 2 des aktuellen Afghanistan-Mandates (Bundestagsdrucksache 19/26916) verweisen.

Somit verstößt mein Abstimmungsverhalten weder völker- noch verfassungsrechtlichen Vorgaben. Dennoch möchte ich Ihnen im Folgenden erläutern, warum ich für die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes gestimmt habe.

Die Verlängerung des internationalen Einsatzes in Afghanistan am 25.3.2021 sollte unter anderem die Fehler der Trump-Regierung korrigieren und dem Friedensprozess eine letzte Chance geben. Auftrag dieser Mission ist es, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte durch Ausbildung, Beratung und Unterstützung („Train, Advice and Assist“) dazu zu bringen, ihrer Sicherheitsverantwortung selbst nachzukommen. Daneben hat die Bundeswehr weiterhin den Auftrag, über die Sicherung des von der NATO eingesetzten Personals hinaus, auch im zivilen Wiederaufbau eingesetztes Personal der internationalen Gemeinschaft im Notfall und in Abstimmung mit der afghanischen Regierung zu unterstützen.

Diese Regierung, aber auch die Gesellschaft in Afghanistan sind weiterhin in besonderem Maße auf internationale Unterstützung – auch aus Deutschland – angewiesen. Ebenso müssen auch die afghanischen Sicherheitskräfte zwingend unterstützt werden, da die Auseinandersetzung mit den Taliban und anderen aufständischen Gruppen immer noch hohe Opferzahlen fordert. In den vergangenen Monaten ist ein Anstieg der Gewalt dort zu erkennen – gegen Staatsbedienstete sowie Sicherheitskräfte, aber auch gegen die Zivilbevölkerung.

Sollten die internationale Gemeinschaft und die Bundeswehr die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte jetzt abrupt beenden, würde dies ohne Zweifel zu einer großen Verunsicherung und Unsicherheit führen, die die langfristige friedvolle Entwicklung des Landes gefährden könnte. Diese ist sehr wichtig für die afghanische Bevölkerung, die auch über die zukünftige Entwicklung ihres Landes selbst bestimmen können muss. Insbesondere Frauen müssen stärker einbezogen werden. Durch einen Abzug der internationalen Streitkräfte könnten sich Entscheidungen wie das kürzlich beschlossene Gesangsverbot für Mädchen ab dem 12. Lebensjahr häufen.

Ein ausführliches Statement zur Verlängerung des RSM Mandats der Abgeordneten Omid Nouripour, Dr. Tobias Lindner und weiterer Abgeordneten meiner Fraktion, das auch meine Haltung zu diesem Thema widerspiegelt, finden Sie hier: https://www.tobias-lindner.de/2021/03/26/persoenliche-erklaerung-zur-verlaengerung-des-rsm-mandats-2/.

Ungeachtet dessen ist eine unabhängige Evaluation des Einsatzes nötig, was die Bundesregierung bis heute vermieden hat. Zudem braucht es ein Konzept, wie deutsche Unterstützung auch ohne Schutzpersonal gewährleistet werden kann. Solidarität mit den Menschen in Afghanistan muss auch nach dem Einsatz bestehen bleiben, denn Deutschland trägt weiterhin eine große Verantwortung für das Land.

Insofern kann ich Ihnen abschließend mitteilen, dass ich eine grundsätzliche Haltung „keine deutschen Soldaten im Ausland“ tatsächlich für falsch hielte. Die Bundeswehr ist auch innerhalb anderer Mandate im Auslandseinsatz und wird damit in vielen Fällen unserer internationalen Verantwortung gerecht. So etwa mit dem sogenannten MINUSMA Mandat in Mali, das meine Fraktion auch in großer Einigkeit unterstützt.

Die Entscheidung über einen Auslandseinsatz kann niemals leichtfertig fallen und die intensive Befassung in unserer Fraktion, in der wir unterschiedliche Auslandseinsätze auch unterschiedlich bewerten, zeigt aus meiner Sicht, dass wir in dieser komplexen Frage eine sorgsame Abwägung nach bestem Wissen und Gewissen vornehmen.

Mit freundlichen Grüßen,
Anna Christmann

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