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Agnieszka Brugger
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Sebastian M. •

Wieso ist das Bundeswehrsondervermögen in seiner Höhe von 100 Milliarden Euro gerechtfertigt?

Die gesamte Nato hat schon jetzt eine Übermacht gegenüber Russland in den meisten Rüstungskategorien: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/379080/umfrage/vergleich-des-militaers-der-nato-und-russlands/
wieso gibt es also als Reaktion auf die aktuelle Agressivität Russlands die Notwendigkeit einen Jahreshaushalt für Rüstung auszugeben, wo doch die Klimakrise viel mehr Mittel benötigen würde?
Darüber hinaus würde ein Nato-Russland Krieg mit Atomraketen gefochten und russische Panzer würden, genau wie wir, im atomaren Feuer enden, bevor sie deutschen Boden erreichen. Wieso ist dieses Vorgehen also rational? Denn das muss es sein bei solchen Summen. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Und Politik sollte handeln, nicht reagieren.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr M.,

vielen Dank für Ihre Frage. Die kurze Wahrheit lautet aus meiner Sicht: Wir dürfen Klimaschutz und Sicherheit nicht gegeneinander ausspielen, sondern wir müssen bei beiden Themen schnell handeln und mehr investieren. Gerade der Krieg in unserer Nachbarschaft führt uns vor Augen, wie sehr beide Fragen miteinander zusammenhängen.

Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine und dem Angriff Präsident Putins auf die gemeinsame Friedensordnung wurden leider fundamentale Konstanten auf unserem Kontinent verschoben. Mit seinem Angriffskrieg greift Wladimir Putin auch alle Regeln, Verträge und Grundlagen an, mit denen wir seit Jahrzehnten gemeinsame Sicherheit auf unserem Kontinent organisiert haben. Es ist eine historische Zäsur, die viele Strategien und auch alte Glaubenssätze der Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend verändern wird.

Nach wie vor bin und bleibe ich der festen Überzeugung, setze mich politisch mit aller Kraft dafür ein, dass wir die vielen Konflikte und Krisen dieser Welt am Verhandlungstisch lösen können. Diese Idee greift Präsident Putin gerade an und versucht mit militärischer Brutalität das Recht des Stärkeren durchzusetzen in einem eklatanten Bruch der Charta der Vereinten Nationen und einer Reihe von europäischen Vereinbarungen, die Russland selbst unterstützt hat. Er greift dabei auch Werte wie Demokratie und Freiheit an, die uns besonders wichtig sind. Die Realität führt uns vor Augen, dass unsere Sicherheit leider keine Selbstverständlichkeit ist.

Um unsere gemeinsame Sicherheitsordnung, das Völkerrecht, unsere Verbündeten und unsere Bürger*innen vor solcher skrupellosen Gewalt und weiteren Bedrohung zu schützen, brauchen wir eine gemeinsame, mit unseren Partner vereinbarte und starke sicherheitspolitische Antwort mit dem Ziel, Präsident Putin aber auch andere Regelbrecher vor weiterer Aggression abzuhalten.

Deshalb müssen wir mehr für unsere Sicherheit tun und dafür auch mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen - in all ihren Dimensionen. Dabei geht es um die vielen Probleme bei der Bundeswehr, aber auch um Energiesouveränität, Diplomatie, Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit.

Sie haben völlig recht, dass allein die europäischen Mitgliedsstaaten der NATO deutlich mehr als doppelt so viel für Militär ausgeben als Russland (obwohl es hier auch jenseits der offiziellen Werte immer wieder klare Hinweise auf die Existenz von Schattenhaushalten gibt). Auch der deutsche Verteidigungshaushalt ist seit 2014 kontinuierlich gestiegen. Trotzdem hat das allein weder die in den letzten Jahre viel beschriebenen Probleme bei der Bundeswehr noch in der EU gelöst. Das hat drei Gründe:

Viel zu oft haben wir trotz aller Bekenntnisse Beschaffungs- und Sicherheitspolitik nach nationalen Interessen organisiert und damit dafür gesorgt, dass wir uns gegenseitig in Europa Konkurrenz gemacht haben und extrem viele unterschiedliche Modelle bestimmter Systeme beschafft haben, gemeinsame Projekte umständlich und damit auch sehr fehleranfällig aufgesetzt wurden oder nationale Wünsche in der Endkonfiguration dazu beitragen, dass die Interoperabilität vernachlässigt wird. Das führt beispielsweise dazu, dass wir als EU nicht in der Lage sind, eine Operation ohne die Unterstützung der USA durchzuführen wie wir sie letztes Jahr am Flughafen in Afghanistan zur Evakuierung gesehen haben. Deshalb muss klar sein: Jeder Euro, der aus dem Sondervermögen investiert wird, muss einer gemeinsamen europäischen Sicherheit dienen. Dazu müssen wir uns auch intensiver mit unseren Partner absprechen und wo immer es geht Systeme gemeinsam beschaffen. Auch mit dem aktuell verabschiedeten „Strategischen Kompass“ der EU wurden einige wichtige Weichenstellung in Richtung besserer Zusammenarbeit getroffen. Gerade der Vorgänger von US-Präsident von Joe Biden hat uns sehr deutlich vor Augen geführt, dass unsere Zusammenarbeit über den Atlantik hinweg keine unumstößliche Gewissheit ist und wir unsere eigene Handlungsfähigkeit und Souveränität auch vor einem solchen Hintergrund dringend stärken müssen.

Es gibt eine Reihe von Beschaffungsproblemen bei der Bundeswehr und damit das Geld aus dem Sondervermögen sinnvoll eingesetzt wird, braucht es hier endlich wirksame Veränderungen und Reformen. Die Anschaffungen müssen sich am tatsächlichen Bedarf der Bundeswehr orientieren. Es darf nicht passieren, dass Abgeordnete für ein bestimmtes Modell werben, weil ihr Wahlkreis von der Beschaffung profitieren würde. Hohe Priorität sollte nun die persönliche Ausstattung der Soldat*innen haben. Das sind in der Regel auch Beschaffungsvorhaben die sich schneller umsetzen lassen und direkt bei der Truppe ankommen. Wichtige weitere Bereiche sind Munition und Fahrzeuge, aber auch die Stärkung der eigenen Abwehrfähigkeiten.

Und trotzdem braucht es am Ende auch mehr finanzielle Mittel, auch aufgrund der Skandale und Probleme der letzten Jahre sind wichtige Aufgaben liegen geblieben und die Probleme haben sich eher verschärft und verteuert: Statt grundlegende Fähigkeiten und Ausstattungen wurden Prestigeprojekte (die teilweise extrem viel Geld verbrannt haben) vorangetrieben, Materialerhalt war über Jahre systematisch unterfinanziert, die Beschaffung von Ersatzteilen und Munition wurde vernachlässigt, Entscheidungen bei sehr teuren, mittlerweile aber alten Systemen immer wieder verzögert (der Erhalt wird Jahr für Jahr teurer ohne dass ein sicherheitspolitischer Mehrwert entsteht) und einige Fähigkeiten gab es nur auf dem Papier.

Wir haben schon im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir eine gut ausgestattete Bundeswehr wollen, auf marktverfügbare Systeme setzen und bei den Problemen der Vergangenheit endlich sehr gründlich aufräumen wollen.

Mit dem einmaligen Sondervermögen zur Verbesserung unserer Landes- und Bündnisverteidigungsfinanzieren wir wichtige Investitionen in unsere Sicherheit. Dabei geht es nicht um Aufrüstung, sondern um eine angemessene Ausrüstung der Bundeswehr für ihre tatsächlichen Aufgaben und auch weitere Bereiche, die unsere Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit stärken wie zum Beispiel Cybersicherheit. Es geht um Verteidigung und Schutz, nicht um Aggression.

In der parlamentarischen Debatte hat unsere Außenministerin Annalena Baerbock zahlreiche Aspekt rund um das Sondervermögen aus meiner Sicht hervorragend auf den Punkt gebracht, Sie können sie hier nachlesen: https://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/sondervermoegen-bundeswehr.

Da das Sondervermögen über eine einmalige Schuldenaufnahme finanziert werden soll, wird gerade eben verhindert, dass die Investitionen in Sicherheit zulasten anderer wichtiger Aufgaben erfolgen. Für den Klima- und Energiebereich ist übrigens mit dem Sondervermögen „Energie- und Klimafond“ eine ähnliche Konstruktion gewählt worden. Kurz vor der Entscheidung um das Sondervermögen hat die Bundesregierung hier eine Aufladung beschlossen. Dafür wurden bereits nicht benötigte Gelder von 60 Milliarden Euro zugewiesen, in den nächsten vier Jahren sollen insgesamt 200 Milliarden Euro in den Klimaschutz und die klimaneutrale Transformation investiert werden.

Und auch wenn wir nun deutlich mehr in unsere Sicherheit investieren und der russische Angriffskrieg in der Ukraine viele Kapazitäten beansprucht, ist die Klimakrise alles andere als vergessen. Im Gegenteil kann man feststellen, dass in den letzten Monaten deutlich mehr für die Energiewende getan wurde als in den letzten Jahren. Die Bundesregierung arbeitet gerade im Energiebereich mit Hochdruck daran, jenseits der kurzfristigen Kompensation fossiler Energieimporte über die massive Förderung von Erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Einsparungen eine Wende hin zu mehr Klimaneutralität, Unabhängigkeit und Sicherheit zu ermöglichen.

Robert Habeck hat als Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz bereits ein erstes "Sofortprogramm" für den Klimaschutz verabschiedet – mit dem unter anderem der Gebäudesektor und nachhaltige Energie gefördert und schnellstmöglich vorangebracht werden sollen (https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/sofortprogramm-klimaschutz-1934852). Hierfür wurden acht Millionen Euro beschlossen.

Viele weitere wichtige Maßnahmen im Energie-, Gebäude-, Industrie- und Verkehrsbereich sowie in der Landwirtschaft werden gerade in den entsprechenden Ressorts vorbereitet. Robert Habeck hat bereits "Osterpaket" vorgestellt (https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/0406_ueberblickspapier_osterpaket.pdf?__blob=publicationFile&v=12) und ein "Sommerpaket" mit vielen Maßnahmen zum Klimaschutz angekündigt, mit denen beispielsweise die Energiewende schnellstmöglich weiter vorangebracht und entfesselt werden soll. Er hat hier ganz klar gemacht:  Wir wollen bis 2045 klimaneutral werden und bis 2030 den Anteil Erneuerbarer Energien auf 80 Prozent steigern. Die Arbeit dafür hat begonnen. Die prioritären Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen setzen wir jetzt aufs Gleis.

Weitere Informationen zu den Vorhaben und Maßnahmen finden Sie hier: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2022/02/11-jwb-2022.html.

Die letzten Wochen haben noch einmal besonders schmerzlich gezeigt, was uns unsere Energieabhängigkeit kostet, sicherheitspolitisch und finanziell. Es ist deshalb richtig und wichtig, dass die Bundesregierung nun angekündigt hat, in den kommenden vier Jahren noch mehr für den Klimaschutz zu investieren. Die Folgen dieses Krieges werden unseren Kontinent über Jahre prägen und uns in den verschiedensten Bereichen viel abverlangen und kosten – wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich. Von der klassischen äußeren Sicherheit bis zu steigenden Energiepreisen, die natürlich auch solidarisch abgefedert werden müssen. Deshalb müssen wir erst recht Sicherheit, Solidarität und Klimaschutz miteinander verwirklichen und hier insgesamt noch mehr tun.

Mit freundlichen Grüßen

Agnieszka Brugger

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