Protokoll einer "dreisten Lüge"

"Dreistigkeit", Geschichtsklitterung", "dreiste Lüge": Die Empörung von SPD-Politikern über eine Antwort des CDU-Bundestagsabgeordneten Ralf Brauksiepe auf abgeordnetenwatch.de war grenzenlos. In Stuttgart befasste sich der Landtag mit der Angelegenheit, in Berlin musste sich sogar die Bundesregierung für die Äußerung ihres Parlamentarischen Staatssekretärs rechtfertigen. Warum sagte der Abgeordnete die Unwahrheit?

von Martin Reyher, 29.04.2010

 

Dass sie mit ihrer Frage einmal Abscheu und Entrüstung auslösen wird, ahnt Frau S. am 27. Oktober 2009 vermutlich noch nicht. Und vermutlich ahnt sie auch nicht, dass sich wenige Tage später der baden-württembergische Landtag mit dem Fall beschäftigen wird und kurz darauf sogar die Bundesregierung. Ganz abgesehen von SPIEGEL, WELT und der Financial Times.

Dabei beginnt alles ganz harmlos, mit einer Frage von Frau S. an den Parlamentarischen Staatssekretär im Arbeitsministerium, Ralf Brauksiepe (Foto), auf abgeordnetenwatch.de. Es geht um die Neuordnung der Hartz IV-Verwaltung, ein sperriges und trockenes Thema, das normalerweise nicht dazu geeignet ist, die Gemüter zu erhitzen.

Welche Sprengkraft Brauksiepes Antwort vom 3. November birgt, wird nicht sofort deutlich. Der CDU-Mann schreibt sinngemäß, die Union hätte bei der Neuordnung der Hartz IV-Verwaltung gerne das Grundgesetz geändert, auch um Bürokratie abzubauen. Doch sei dies am Widerstand der SPD gescheitert. Brauksiepe wörtlich:

"Wir müssen diesen Weg allerdings so gehen, weil die SPD sich klar festgelegt hat, eine Verfassungsänderung in diesem Bereich nicht mitzutragen."

Frau S. hat dies ganz anders in Erinnerung. Drei Tage später:

"Sind Sie sicher, dass - wie in Ihrer Antwort dargestellt - gerade die SPD keine Verfassungsänderung wollte?"

"Vielleicht sind sie so nett, mir diesen Widerspruch zu erklären"

Am 19. November konfrontiert ein anderer Bürger den Abgeordneten Brauksiepe mit einem Widerspruch:

"Ich bin ob dieser Antwort einigermaßen verwundert, da auf einer Veranstaltung in der KW 45 ein Parteikollege von Ihnen aus einem hessischen Wahlkreis ganz klar geäußert hat, dass die Verfassungsänderung an der Fraktion der CDU gescheitert sei und die CDU-Fraktion auch zu dieser Auffassung stehe! Vielleicht sind sie so nett, mir diesen Widerspruch zu erklären."

Mit einer Antwort an Frau S. lässt Brauksiepe sich gut drei Wochen Zeit. Dass ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz wohl in seiner Haut ist, lässt sich zwischen den Zeilen seiner schmallippigen Antwort herauslesen.

"Das von Ihnen aufgeworfene Thema war am 25.11. Gegenstand in der Fragestunde des Deutschen Bundestages und ist dort ausführlich debattiert worden. Insofern verweise ich auf die entsprechenden Einlassungen der Bundesregierung, die in dem öffentlich zugänglichen Protokoll nachzulesen sind."

Denn inzwischen ist der Dialog auf abgeordnetenwatch.de ein Thema in den Parlamenten geworden. Zunächst tritt am 4. November, also einen Tag nach Brauksiepes Behauptung, die SPD habe sich einer Grundgesetzänderung verweigert, der SPD-Landtagsabgeordnete Rudolf Hausmann im baden-württembergischen Landtag ans Rednerpult und kommt schnell zur Sache (pdf):

"Wenn man jetzt ... ein bisschen weiter recherchiert, stellt man fest: Es gibt eine Internetseite, die „abgeordnetenwatch“ heißt. Auf dieser Seite hat eine interessierte Bürgerin am 27. Oktober 2009 [eine Frage gestellt]..."

"Das schlägt dem Fass den Boden aus"

Nachdem Hausmann aus der Frage von Frau S. und Brauksiepes Antwort zitiert hat, kann er sich nur noch schwer beherrschen:

"Das schlägt natürlich dem Fass den Boden aus. Also die, die eine Verfassungsänderung betrieben haben, werden von denen, die in unverantwortlicher Weise diese Verfassungsänderung gekippt haben, noch beschuldigt, sie würden selbst nicht für die Verfassungsänderung eintreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine unsaubere Art, Politik zu machen, und wenn das zum Stil der neuen Regierung wird, dann schwant mir ganz Böses. Man kann bei dieser Dreistigkeit, mit der der Mann hier auftritt, eigentlich fast sprachlos werden. Ich sage Ihnen – bei allen Unterschieden in der Einzeleinschätzung Ich bin es zumindest hier im Haus nicht gewohnt, dass man so unseriös mit der Wahrheit umgeht und sozusagen Verantwortung für eigenes Tun auf einen anderen schiebt."

Am 25. November richtet sich im Deutschen Bundestag die Grünen-Abgeordnete Brigitte Pothmer mit einer parlamentarischen Anfrage an die Bundesregierung (pdf):

"Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Arbeit und Soziales, Dr. Ralf Brauksiepe, auf der Plattform „Abgeordnetenwatch“, die Koalition der CDU/CSU und FDP habe sich für die getrennte Trägerschaft im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, SGB II, entscheiden müssen, weil die SPD eine Verfassungsänderung in diesem Bereich nicht mittragen würde...?"

Daraufhin entwickelt sich der nachfolgend gekürzt wiedergegebene Wortwechsel (pdf) zwischen dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel, der Brauksiepe an diesem Tage vertritt, und der Abgeordneten Brigitte Pothmer:

"Verehrte Frau Kollegin Pothmer, ... ich befürchte, dass Sie damit leben müssen, dass wir nicht in eine lange Diskussion über die Frage eintreten können, ob und unter welchen Bedingungen wer eine bestimmte Lösung mittragen möchte. ... - Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ich finde, Sie haben meine Frage in keiner Weise beantwortet. Meine Frage lautete, wie Sie zu der Aussage des Herrn Staatssekretär Brauksiepe stehen, dass die CDU/CSU-Fraktion für eine Verfassungsänderung wäre, die von der SPD aber leider torpediert werde. - Ich kann Ihnen Ihre Empfindungen nicht nehmen, Frau Kollegin. ..."

 

"Dreiste Lüge und Geschichtsklitterung"

Brauksiepes Behauptung hat längst die Bundes-SPD in Person von Hubertus Heil auf den Plan gerufen. Am 16. November 2009 berichtet der SPIEGEL auf Seite 18:

"Hubertus Heil widerspricht ... der Union, deren Fachpolitiker kürzlich behauptet hatten, eine entsprechende Grundgesetzänderung sei bislang am Veto der SPD gescheitert. So verbreitet (es) der Christdemokrat Ralf Brauksiepe, Parlamentarischer Staatssekretär im Arbeitsministerium, auf der Internetseite "abgeordnetenwatch.de"... Das, so kontert Heil, sei "eine dreiste Lüge und Geschichtsklitterung"."

Dass die SPD eine Grundgesetzänderung anstrebte, konnte Brauksiepe nicht verborgen geblieben sein. So hatte der damalige Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am 19. Februar 2009 einen zweiseitigen Brief an die "lieben Kolleginnen und Kollegen" der Koalition aus CDU, CSU und SPD, also auch an Brauksiepe, geschrieben, in dem es heißt:

"Am Dienstag dieser Woche habe ich die Ressortabstimmung innerhalb der Bundesregierung eingeleitet, damit ... der Entwurf der Grundgesetzänderung am 11. März im Kabinett beraten werden [kann]."

Mit ausgehandelt hatte den Entwurf übrigens Brauksiepes Parteifreund Jürgen Rüttgers, der über den Bundesrat an dem Verfahren beteiligt war. Letztendlich war die Grundgesetzänderung bei der Hartz IV-Neuordnung im März 2009 von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion torpediert worden, sehr zum Ärger der unionsregierten Bundesländer (mehr bei Spiegel Online...).

Wie konnte es zu der falschen Behauptung des Staatssekretärs und Bundestagsabgeordneten kommen?

Warum antwortet Brauksiepe nicht mehr auf öffentliche Bürgerfragen?

Letzten Freitag (23.4.2010) bat abgeordnetenwatch.de Ralf Brauksiepe per Mail und Fax um eine Stellungnahme und um die Beantwortung der folgenden Fragen: 1. Was hat Sie zu der Aussage vom 3. November 2009, die SPD habe sich gegen eine Verfassungsänderung im Zusammenhang mit der Hartz-IV-Neuordnung ausgesprochen, bewogen? 2. Haben Sie diese Aussage nach besten Wissen und Gewissen gemacht? 3. Bleiben Sie weiterhin bei dieser Behauptung? 4. Hängt die Tatsache, dass Sie seit dem 30. November 2009 plötzlich keine inhaltlichen Antworten mehr auf Bürgerfragen bei abgeordnetenwatch.de geben, mit ihrer unwahren Behauptung vom 3. November zusammen?

Am Dienstag äußerte Brauksiepe sich per Mail gegenüber abgeordnetenwatch.de. Die vier Fragen beantwortete er wie folgt:

"Ich freue mich, dass es der christlich-liberalen Koalition gemeinsam mit der SPD im März 2010 gelungen ist, sich auf einen gemeinsamen Vorschlag zur Neuorganisation der Grundsicherung für Arbeitssuchende zu verständigen, der auch eine Änderung des Grundgesetzes (Art. 91e) umfasst. Damals sah das anders aus. Die Tatsache, daß ich das Portal von Abgeordnetenwatch nicht mehr in dem Umfang nutze wie in der vergangenen Wahlperiode, hängt mit einer grundsätzlichen Entscheidung zusammen, die auch andere Kollegen aus dem Deutschen Bundestag so getroffen haben. Daher habe ich beschlossen, dies künftig auch so zu handhaben."

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