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Stefan Urbat
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Frage von Natascha P. •

Frage an Stefan Urbat von Natascha P. bezüglich Bildung und Erziehung

Sehr geehrter Herr Urbat,

im Rahmen unseres Sozialkunde Leistungskurs beschäftigen wir uns intensiv mit der Bundestagswahl am 27.09.09.

Ich bitte Sie, uns -als potezielle Wähler-, im Rahmen Ihres Wahlkampfes, einige Fragen bezüglich ihren Zielen zu beantworten.

Da die Bildung für uns einer der interessantesten und wichtigsten Punkte ist, bitte ich Sie, mir einen Einblick in Ihre Bildungspolitik zu gestatten. Wie stehen Sie zu der Realschule "Plus"? Was ist ihre Meinung zu der verkürzten Oberstufe? Wie wollen Sie das Angebot an den Unis attraktiver machen? Wie stehen Sie zu dem Arbeitsmarkt und wie wollen sie diesen fördern?

Aufgrund unseres Alters möchte ich Sie zudem bitten, mir einige Fragen zu dem Thema Jugend und Familien zu beantworten. Wie wollen Sie die Jugen unterstützen? Haben Sie vor, Jugendzentren zu eröffnen und gezielte soziale Probleme zu lösen? Wenn ja, wie? Was sind Ihre Grundsätze zum Thema Familienpolitik und was möchten Sie an der momentanen Situation ändern?

Die Lage in Afghanistan ist auch relativ brenzlig. Wie stehen Sie zu dem Bundeswehreinsatz? Wie wollen SIe die Außenpolitik ändern bzw. verbessern?

Mit freundlichen Grüßen

N.

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PIRATEN

Sehr geehrte Frau Preis,

vorab möchte ich noch darauf hinweisen, dass seit der Föderalismusreform von ein paar Jahren der Bundestag so gut wie keine Rechte mehr im Bereich Schulpolitik hat, wogegen die Landtage der 16 Bundesländer nahezu alleine dafür zuständig sind. Nicht nur weil die Landtagswahlen im Frühjahr 2011 nicht mehr ganz außerhalb des Horizonts liegen und bei Universitäten das nicht ganz so einseitig ist, gebe ich hier die (nur) teilweise durch unser Parteiprogramm gedeckte Meinung hierzu wieder:

das nur bei Ihnen in Rheinland-Pfalz vorhandene Konzept Realschule Plus empfinde ich als einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem nach wie vor rein dreigliedrigen Schulsystem hier in Baden-Württemberg (kurzer Tipp hierzu: wir haben auch einen Direktkandidaten im Wahlkreis Ludwigshafen/Frankenthal namens Philipp Scherer, vielleicht haben Sie das aufgrund der Struktur bzw. Anzahl Antworten/Fragen auf abgeordnetenwatch nicht bemerkt). Denn hier führt ein Hauptschulabschluss heutzutage geradezu zu einer Stigmatisierung als schlechteste Schüler überhaupt und bedingt praktische Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt für Berufsanfänger.

Eine Realschule, die beide klassischen Schulabschlüsse wie Realschule und Hauptschule integriert, bietet nicht nur mehr Flexibilität und Durchlässigkeit für Schüler (hier: bis zur 7. Klasse identisch), sondern auch die Chance auf größere Akzeptanz am Arbeitsmarkt, selbst bei formal gleichem Abschluss, denke ich.

Die verkürzte Oberstufe im Rahmen der "G8" meinen Sie wohl, hat zumindest bei uns in Baden-Württemberg nur dazu geführt, dass derselbe Stoff aus den Lehrplänen jetzt in 8 statt vormals 9 Jahren behandelt wird. Das Ergebnis sind völlig überlastete Schüler, die ungefähr soviel für die Schule tun müssen, wie jemand mit einer 40-Stunden-Woche. Das beeinträchtigt in meinen Augen auch die sonstige, persönliche freie Entfaltung der Gymnasiasten.

Entweder müssen die Lehrpläne entrümpelt werden, um wieder eine erträgliche Belastung der Schüler zu erreichen, oder man muss notfalls wieder auf G9, d.h. ein dreizehntes Schuljahr zurück gehen, wenn es nicht anders möglich ist. Diese Fehlentwicklung war für mich übrigens vorhersehbar, denn schließlich habe ich selbst das Gymnasium bis zur 13. Klasse besucht, und weiss, wie solche Änderungen in der Praxis umgesetzt werden: die Überfrachtung von Lehrplänen ist kein neues Phänomen, sondern hat sich in diesem Zusammenhang lediglich stark verschärft.

An den Universitäten müssen zunächst bundesweit die Studiengebühren abgeschafft werden, auch wenn die Kompetenz des Bundes hier seit dem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2005 fraglich ist (es laufen vor verschiedenen Gerichten noch Verfahren deswegen). Sie haben in Rheinland-Pfalz im Gegensatz zu uns in Baden-Württemberg keine Studiengebühren (nach aktuellem Stand 2009), aber die Bundesländer können das derzeit (noch?) alleine regeln. Denn Studiengebühren widersprechen nach unserer Ansicht internationalen Vorschriften für barrierefreies Studieren, schrecken in der Praxis tatsächlich Interessierte mit weniger gutem finanziellen Hintergrund vom Studium ab oder führen in Grenzregionen wie im Dreiländereck RLP/Hessen/BW zu einem Studententourismus in solche Bundesländer, die keine Studiengebühren erheben. Interessanterweise hat von diesen drei Bundesländern Hessen im letzten Jahr die Studiengebühren wieder abgeschafft. - Ein Freund von mir, der C4-Professor an der Universität Stuttgart ist, hat außerdem als Entscheider über Studiengebührenverwendung mir gegenüber die weitgehende Wirkungslosigkeit der Studiengebühren festgestellt, was die finanzielle Ausstattung der Universitäten angeht.

Auf der anderen Seite ist es unserer Meinung nach die Pflicht des Staates, für eine angemessene finanzielle Ausstattung der Universitäten zu sorgen, auch wenn gegen private Gelder oder die z.B. der DFG für Universitäten nichts Grundsätzliches einzuwenden ist. Diese sollten meiner Ansicht nach aber nicht dazu führen, die Unabhängigkeit und Verpflichtung auf Grundlagenforschung der Universitäten aufgrund privater Interessen einzuschränken. Generell steht Deutschland im Bereich Bildung hinsichtlich staatlicher Finanzierung international sehr schlecht da, das betrifft Universitäten wie Schulen gleichermaßen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Z.B. kommen bei uns allgemein zuviele Studenten auf einen Hochschullehrer, was deren Ausbildung ebenfalls abträglich ist.

Außerdem sollte Open Access weiter gefördert werden, denn die ohnehin finanziell klammen Universitäten werden heutzutage von wissenschaftlichen Fachverlagen noch zusätzlich geschröpft: mit Steuermitteln erlangte Ergebnisse werden von diesen für teures Geld sozusagen and die scientific community zurück verkauft, für die Verlage ist das ein einträgliches Geschäft, für die Forschung aufgrund von Verfügbarkeitsproblemen dagegen eine Katastrophe.

Zum Thema Arbeitsmarkt:

Leider hat unsere Partei zum Thema Arbeit noch keinen offiziellen Standpunkt formuliert. Ich kann Ihnen hier also nur eine rein persönliche Meinung mitteilen: es bestehen erhebliche Probleme, Mängel und entsprechender Handlungsbedarf am Arbeitsmarkt. Z.B. ist in meinen Augen eine der grundverkehrten Annahmen, dass man wie in früheren Jahrzehnten immer noch im Wesentlichen alle Menschen mit Vollzeitarbeit bekannter Prägung (35 bis 40 Wochenstunden) beschäftigen kann. Das ist nicht belastbar, da die Produktivität weit schneller wächst, als eine dauernd aufrecht erhaltbare Produktion: die amerikanische Kreditblase hat zuletzt etwas vorgegaukelt, was so nicht funktioniert. Es führt also kein Weg daran vorbei, Arbeit anders zu verteilen und langsam den Zwang zur Arbeit dementsprechend abzubauen sowie eine Art Grundversorgung für Alle einzuführen (bedingungsloses Grundeinkommen/Bürgergeld). Die genaue Gestaltung solcher weitreichender Änderungen ist eines der Themen, dass wir als Partei demnächst in Angriff nehmen müssen und werden. Das ist Alles andere als einfach, und mir persönlich fehlt sicher die Fachkompetenz, um allzu viel Fundiertes im Detail beitragen zu können. Auf jeden Fall würde das z.B. die derzeitige, menschenunwürdige Behandlung von Hartz-IV-Empfängern unnötig machen, indem dieses Zwangsarbeitsmodell mit bewusstem Verarmungsdruck entfiele (solche Menschen werden heutzutag geradezu auf geheimdienstliche Art und Weise vollständig durchleuchtet, sie haben keine Privatsphäre mehr).

Zum Thema Jugend und Familie:

wie auch beim Arbeitsmarkt gibt es dazu fast keine Stellungnahme unserer Partei. Zwei Punkte möchte ich besonders hervorheben: sogar das Bundesverfassungsgericht musst schon eingreifen, um allzu einseitige Benachteiligungen von Familien mit Kindern in Deutschland abzubauen. Noch immer sind Paare und Alleinstehende mit Kindern wirtschaftlich gegenüber solchen ohne Kinder klar benachteiligt, was ein Grund für die geringe Geburtenrate ist. Auch abgesehen davon sind Kinderbetreuungsangebote noch verbesserungs- und ausbaufähig, kostenlose Kindergartenplätze sind z.B. auch sinnvoll. Hier würde ich eine stärkere steuerliche Begünstigung von Kindern indirekt und direkt anstreben, bei weniger einkommensstarken Eltern bleibt allerdings nur der Weg der direkten Subvention (Kindergeld).

Auf der anderen Seite beachten die großen Parteien, insbesondere die große Koalition, in unserer überalterten Gesellschaft weit mehr die Interessen älterer Menschen, die mehr Wähler stellen, als die der jüngeren Generation, obwohl an dieser unsere Zukunft hängt. Es ist z.B. nur so zu erklären, dass Renten oberhalb der Rentenformel erhöht werden, obwohl das wieder nur die jüngere, arbeitende Bevölkerung einseitig belastet.

Mehr Angebote für jüngere Menschen wie Jugendhäuser wären auf jeden Fall angebracht, in der Praxis werden diese oftmals als vorgebliche Kriminalitäts- schwerpunkte sogar geschlossen, sofern vorhanden.

Der Generationenkonflikt, den es mit Sicherheit schon vor Beginn der historischen Aufzeichnungen gab, ist in jüngster Zeit mal wieder besonders scharf geworden, ähnlich wie zur Zeit der APO/68er Generation. Das hat viel mit den neuen Medien zu tun, insbesondere Internet und Computern. Die überwiegend älteren Entscheidungsträger stehen dieser historischen Umwälzung unseres Umgangs mit Informationen und Kultur weitgehend ratlos bis abweisend gegenüber. So wird verteufelt, was man nicht versteht und kennt, z.B. Computerspiele wie Counterstrike und sachlich nicht haltbare Zusammenhänge mit Amokläufen werden konstruiert. Dabei ist leichte Verfügbarkeit realer, großkalibriger Schusswaffen der einzige Faktor, der statistisch belastbar Amokläufe mit (vielfacher) Todesfolge begünstigt. Man müsste also dort ansetzen. - Ein weiterer Punkt ist die Einführung von Zensurinfrastruktur aufgrund fadenscheiniger Argumente, wie Schutz von Kindern gegen Missbrauch, obwohl hier mehr Ermittler Not täten und ein international durchaus vereinbares Vorgehen gegen Anbieter solchen Materials inklusive Löschen entsprechender Inhalte der einzige wirksame Ansatz wäre.

Zum Thema Afghanistan:

Perönlich habe ich mich schon vor dem Angriff auf Tanklastwagen dort für einen sofortigen (d.h. genauer gesagt schnellstmöglichen) Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ausgesprochen. Dieser Vorfall illustriert einen der Gründe: die Opfer unter der Zivilbevölkerung sind ebenso unkalkulierbar wie unzumutbar für dieses gebeutelte Land. Es wäre besser, das ausländische Militär dort abzuziehen und lediglich zivile Aufbauhilfe zu leisten, soweit Schutz dieser nötig ist, muss Afghanistan das selbst versuchen. Alles Andere führt nur zur Verschärfung von Gegensätzen zwischen Afghanen und ausländischen Truppen bzw. deren Ländern. Es gibt noch weitere Gründe, die einen Abzug geraten erscheinen lassen, z.B. die offensichtliche Aussichtslosigkeit des militärischen Engagements und die mangelnde Ausbildung und Ausrüstung gerade der Bundeswehr für solche Einsätze.

Statt einen nicht erklärten Krieg zu führen, ließen sich außerdem die Mittel dafür sinnvoller einsetzen, dort und natürlich auch bei uns im Inland.

Ansonsten ist Außenpolitik ein komplexes Feld, das man im Einzelfall stets mit nichtmilitärischen Mitteln bearbeiten sollte, außer in äußersten Notfällen, wie z.B. damals dem Übefall des Irak auf Kuwait.

Mit freundlichen Grüßen,

Stefan Urbat