Unveröffentlichte Integritätsstandards

Das sind die internen Verhaltensregeln für Olaf Scholz und seine Minister:innen

Nebenjobs, Aktiengeschäfte, Gratistickets: In einer “Orientierungshilfe” ist festgehalten, was Kabinettsmitglieder dürfen und was nicht. Die Regierung wollte das Dokument bislang nicht transparent machen. Wir veröffentlichen es.

von Martin Reyher, 15.04.2023
Finanzminister Lindner, Bundeskanzler Scholz, Wirtschaftsminister Habeck bei der Kabinettsklausur 2022

Beim Thema Korruptionsbekämpfung läuft es hierzulande ähnlich wie im Film “Und täglich grüßt das Murmeltier”: Beim Aufwachen stellt man fest, dass alles beim Alten ist. 

So war es zuletzt Mitte März, als die Staatengruppe des Europarates gegen Korruption (GRECO) Deutschland wieder einmal an die bekannten Versäumnisse erinnerte. Zahlreiche Forderungen seien von den hiesigen Behörden nicht umgesetzt worden, kritisierte die GRECO in ihrem jüngsten Bericht.

Es gab aber auch anerkennende Worte. So habe die Bundesregierung eine konkrete “Orientierungshilfe für hochrangige Entscheidungsträger” erstellt, die sich mit Fragen der Integrität befasst, lobte GRECO. Mit anderen Worten: Was Regierungsmitglieder dürfen und was nicht, ist nun in einem übersichtlichen Dokument aufgeschrieben. Deutschland habe damit die Empfehlung “in zufriedenstellender Weise umgesetzt”, attestierten die Korruptionsexpert:innen.

Der Europarat wundert sich, dass das Dokument nicht veröffentlicht wurde

Allerdings: Öffentlich zugänglich ist die "Orientierungshilfe" nicht. Die Bundesregierung solle das nachholen, “um die Öffentlichkeit darüber zu informieren, welches Verhalten von hochrangigen Entscheidungsträgern erwartet werden kann", verlangte GRECO.

Das Dokument trägt den Titel “Orientierungshilfe zu den Rechtsverhältnissen der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Parlamentarischen Staatssekretäre des Bundes” und liegt abgeordnetenwatch.de vor. Das Innenministerium hat es auf Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) herausgeben müssen. Zusammen mit FragDenStaat veröffentlichen wir die "Orientierungshilfe" inklusive Anlagen.

Einkünfte aus Kapitalvermögen: zulässig

Welches Verhalten von den Regierungsmitgliedern erwartet wird, wissen die Betroffenen seit mehr als einem Jahr. Am 15. Dezember 2021 schickte Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) seinen kurz zuvor vereidigten Kabinettskolleg:innen einen Brief. Er erinnerte daran, dass sie “besonderen Integritätsstandards” unterlägen. Es gehe darum, Konflikten zwischen den Staats- oder Allgemeinwohlinteressen sowie den privaten Interessen vorzubeugen. Ausführlich nachzulesen sei dies in der “Orientierungshilfe”, die das Innenministerium von Nancy Faeser zuvor verschickt hatte.

Die “Orientierungshilfe" behandelt unter anderem die folgenden Punkte:

  • Aufsichtsratsposten: unzulässig bei auf Gewinnerzielung ausgerichteten Unternehmen (Bundestag bzw. Regierung können jedoch im Einzelfall eine Ausnahme beschließen)
  • Vorstandsposten: unzulässig bei auf Gewinnerzielung ausgerichteten Unternehmen
  • Beruf neben dem Ministeramt: unzulässig
  • Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietungen und Verpachtung: zulässig
  • Schriftstellerische Tätigkeit: ohne Honorar zulässig, sofern es in Ausübung des Amtes erfolgt. Ohne Bezug zum Amt ebenfalls zulässig – dann “ist in Eigenverantwortung über die Annahme und Verwendung eines Honorars zu entscheiden.”
  • Teilnahme an Podiumsdiskussionen, Veröffentlichungen in Massenmedien, Vorträge: zulässig, sofern ohne Honorar
  • Geschenke: zulässig, sofern mit Bezug zum Amt. Ab einem Wert von 150 Euro ist ein Geschenk meldepflichtig, bei Überschreiten dieser Bagatellgrenze ist es abzugeben.
  • eigenes Gewerbe: unzulässig. Geschäftsanteile dürfen aber grundsätzlich besessen werden.

Aufgeben müssen Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretär:innen ein eigenes Unternehmen aber nicht, sondern "lediglich durch eine Vertreterin oder einen Vertreter führen lassen." Als Beispiel wird eine Anwaltskanzlei genannt. "Auf Briefköpfen und Türschildern der Kanzlei kann weiterhin auf die Zugehörigkeit hingewiesen werden."

Bei Einladungen ins Stadion ist auf "entsprechende Kleidung" zu achten

Das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und in die Regierung seien für eine effektive und effiziente Politikgestaltung von grundlegender Bedeutung, heißt es unter dem Punkt "Leitlinien und Regelungen zur Integrität und Vermeidung von Interessenkonflikten". Erarbeitetes Vertrauen könne unter anderem durch Korruptionsfälle in der Regierung schnell verspielt werden. Darum unterlägen Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentarische Staatssekretär:innen "aufgrund der Bedeutung ihrer Staatsämter besonders hohen Integritätsstandards".

So gibt es zum Beispiel klare Regeln für die "Annahme von Eintrittskarten". Sofern eine Veranstaltung in einer dienstlichen Funktion besucht wird, handele es sich zwar nicht um eine mögliche Vorteilsannahme. "Wichtig ist, dass Eintrittskarten nicht von einem privaten Sponsor bezahlt werden." Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretär:innen "sollten nicht in der Lounge eines Sponsors sitzen, sondern im Bereich der bereitgestellten Ehrenplätze." Es solle äußerlich erkennbar sein, dass der Besuch in Ausübung der dienstlichen Tätigkeit erfolge. "Hierzu gehören entsprechende Kleidung und ggf. das Fernhalten von Familienmitgliedern und Freunden aus unmittelbarer Nähe zum Tribünenplatz."

Lebensnah ist auch ein Beispiel zum Thema Verschwiegenheit im Amt. "Bei der immer mehr an Bedeutung gewinnenden Nutzung von sozialen Medien ist die Pflicht der Amtsverschwiegenheit stets zu beachten."

[Dokument "Orientierungshilfe zu den Rechtsverhältnissen der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Parlamentarischen Staatssekretäre des Bundes" im Volltext. Zum Ansehen muss es ggfs. zunächst über den Schalter aktiviert werden]

Die Flugstunde im Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes: 4.899 DM

Neu und vor allem geheim sind diese Vorgaben nicht, vieles steht so auch im Bundesminister-Gesetz. Auch andere Inhalte sind nicht gerade taufrisch. Die Anlagen zur "Orientierungshilfe" sind teilweise so alt, dass Preise noch in D-Mark angegeben sind. So kostet eine Flugstunde im Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes vom Typ AS 332 LI Puma "4.899 DM".

Allerdings finden sich in der 24-seitigen “Orientierungshilfe” auch Vorgaben, die zumindest für Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretär:innen in dieser Form nirgends niedergeschrieben waren. Zum Beispiel zum Thema Interessenkonflikte.

Das Thema sorgt immer wieder für Ärger. Vergangenes Jahr etwa machte der SPIEGEL öffentlich, dass Finanzminister Christian Lindner (FDP) bei der Karlsruher BBBank ein Grußwort hielt, von der er seine private Immobilie finanzieren lässt. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüfte einen Anfangsverdacht auf Vorteilsannahme, stellte ihre Vorermittlungen aber ein: Es hätten sich keine Hinweise ergeben, "dass an die Darlehensgewährung die Erwartung der Einflussnahme auf künftige und/oder die Honorierung vergangener Dienstausübungen geknüpft gewesen wäre". Strafrechtlich war das Thema damit erledigt, doch ein Geschmäckle blieb.

Allgemeinplätze und Selbstverständlichkeiten

In der "Orientierungshilfe" des Innenministeriums heißt es nun, Mitglieder der Bundesregierung hätten in ihrer Tätigkeit und in ihren Entscheidungen "jeden Anschein" zu vermeiden, dass sie für sich, ihre Familie und ihre Freunde finanzielle oder andere materielle Vorteile beabsichtigen. "Sie müssen stets vermeiden, sich gegenüber Personen oder Organisationen zu verpflichten, die möglicherweise unangemessen versuchen, sie bei ihrer Arbeit zu beeinflussen." 

In dem Dokument geht es auch um Kontakte zu Lobbyist:innen. Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretär:innen hätten darauf zu achten, dass "der Umgang mit Interessenvertretungen im Sinne des Lobbyregistergesetzes (LobbyRG) im Einklang mit den Grundsätzen integren Verhaltens geführt wird, damit daraus keine Konflikte zwischen öffentlichem und privatem Interesse entstehen.”

Doch auch das sind eher Allgemeinplätze und Selbstverständlichkeiten. Von daher wundert man sich, warum es die Bundesregierung bislang nicht für nötig hielt, das Dokument zu veröffentlichen. 

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Fragt man das zuständige Innenministerium, welche Gründe man der GRECO für die Nichtveröffentlichung genannt hat, lautet die Antwort: GRECO habe die Gründe gar nicht wissen wollen. Nach Ansicht des BMI gebe es auch keine Notwendigkeit für eine Veröffentlichung der "Orientierungshilfe": Die darin aufgeführten "Rechte und Pflichten" beruhten auf entsprechenden Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Regelungstexten, die bereits öffentlich seien. 

Umso unverständlicher ist, dass das Ministerium der GRECO-Forderung nach Transparenz bislang nicht nachgekommen ist.

Immerhin: Das Haus von Nancy Faeser will die “Orientierungshilfe” demnächst doch zugänglich machen. Eine Veröffentlichung werde derzeit vorbereitet und solle zeitnah erfolgen, sagte eine Sprecherin auf Anfrage.

Alles andere wäre auch schwer vermittelbar. Öffentlich ist das Dokument ja nun.

Nancy Faeser und die mitteilungspflichtigen Geschenke

Ausriss aus Brief von Wolfgang Schmidt an Nancy Faeser vom 15.12.2021 mit Faesers handschriftlicher Notiz: Mitteilungspflichtige Geschenke - "welche sind das?"
Notiz von Innenministerin Faeser: Mitteilungspflichtige Geschenke – "welche sind das?"

Eine Woche nach ihrer Amtseinführung im Dezember 2021 erhielt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Post von ihrem Parteifreund Wolfgang Schmidt. Der Kanzleramtschef machte in seinem Rundschreiben darauf aufmerksam, dass die neuen Regierungsmitglieder besonderen Integritätsstandards unterlägen. Er betonte, dass Nebentätigkeiten nicht gestattet seien. Auch bei Geschenken gebe es klare Regeln. Diese seien ihm als Chef des Bundeskanzleramtes zu melden: "Über die Verwendung der Geschenke entscheide "in den mitteilungspflichtigen Fällen die Bundesregierung." Die Wörter "mitteilungspflichtige Fälle" sind in dem Schreiben an Faeser grün unterstrichen, darunter hat jemand handschriftlich notiert: "Welche sind das?" (s.u.). Die Stiftfarbe "grün" wird nach der "Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien" von der Ministerin oder dem Minister verwendet.

Um eine Antwort auf ihre Frage zu finden, hätte Faeser nur in der "Orientierungshilfe für Regierungsmitglieder" nachschlagen müssen. Dort ist dem "Verbot der Annahme von Geschenken" ein ganzer Abschnitt gewidmet.

Erstellt hat das Dokument: Das Innenministerium von Nancy Faeser. 

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