Die Öffentlichkeit bekommt nun endlich Zugang zu tausenden wissenschaftlichen Gutachten, um die der Bundestag lange Zeit ein Geheimnis machte. Wie Bundestagspräsident Norbert Lammert heute Nachmittag in einer internen Mail an die Bundestagsabgeordneten mitteilte, würden "ab sofort" alle wissenschaftlichen Ausarbeitungen auf der Bundestagswebsite unter www.bundestag.de/ausarbeitungen veröffentlicht. [Update 22.2.2016: Zahlreiche Gutachten sind online noch nicht zu finden.]
Genau dagegen hatte sich die Parlamentsverwaltung jahrelang gewehrt. Nicht einmal eine Übersicht mit den Titeln und Aktenzeichen wollte sie gegenüber abgeordnetenwatch.de herausgeben. Abstruse Begründung: Mit unserer Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) verfolgten wir eine "Ausforschung des Behördenhandelns".
Weil der Vorwurf des "Ausforschens" natürlich ebenso hanebüchen wie juristisch unhaltbar war, musste die Parlamentsverwaltung nach unserem Widerspruch eine Liste aller rund 4.000 Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes aus den Jahren 2005 bis 2015 doch herausgeben. Durch das Bekanntwerden der Titel konnten Bürger und Journalisten erstmals konkrete Gutachten beim Bundestag anfordern - und taten dies auch in großem Umfang: Über die Seite FragDenBundestag.de, einem Gemeinschaftsprojekt von fragdensstaat.de und abgeordnetenwatch.de, wurden bis heute Nachmittag mehr als 2.000 Gutachten per Informationsfreiheitsgesetz vom Bundestag angefordert. Hätte die Parlamentsverwaltung am Ende alle Gutachten einzeln bearbeitet und verschickt, hätte dies mehrere hundert Arbeitstage verschlungen und zehntausende Euro an Kosten verursacht.
Dem Irrsinn ein Ende bereitet
Diesem Irrsinn hat der Ältestenrat des Bundestages heute ein Ende bereitet und endlich eine proaktive Veröffentlichung aller Gutachten beschlossen. In seiner Mail an die Abgeordneten deutet Bundestagspräsident Norbert Lammert an, dass dies auch eine Reaktion auf die über 2.000 Bürgeranfragen via FragDenBundestag.de war. "Vielfach dienen diese Anträge erkennbar dem Zweck, externe Datenbanken über die erstellten Gutachten der WD aufzubauen." Genau das war das erklärte Ziel von FragDenBundestag.de: Mithilfe zahlreicher Bürgerinnen und Bürger, die ein Gutachten beim Bundestag anfordern und dann auf FragDenBundestag.de hochladen, eine öffentlich zugängliche Datenbank mit allen verfügbaren Gutachten aufzubauen.
Dies ist nun nicht mehr notwendig: Der Bundestag stellt die Ausarbeitungen endlich von sich aus ins Netz! Neben Gutachten zu TTIP, Bürgerbeteiligung oder Lobbyismus werden auch skurrile juristische Ausarbeitungen das Licht der Welt erblicken - etwa zu den "rechtlichen Möglichkeiten gegen das Nacktbaden auf einem benachbarten Grundstück“. Ein solches war vermutlich aus nicht ganz uneigennützigen Gründen beim Wissenschaftichen Dienst in Auftrag gegeben worden.
Dass das Gutachten mit dem Titel "Lösung von einem Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus im Rahmen des Abkommens über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership TTIP)" vom Bundestag online gestellt wird, ist dagegen nicht zu erwarten - es wurde als "Nur für den Dienstgebrauch (NfD)" eingestuft. Diese intransparente Praxis wird nach dem heutigen Beschluss des Ältestenrats abgeschafft. "Die Möglichkeit, die Arbeit allein dem Auftraggeber vorzubehalten ("Vertraulich"-Stellung), wird es künftig nicht mehr geben," schrieb Bundestagspräsident Lammert den Abgeordneten.
Kommentare
Kurt O. Wörl am 21.02.2016 um 11:55 Uhr
PermalinkBitte korrigieren: Irrsinn statt Irsinn.
abgeordnetenwatch.de am 21.02.2016 um 18:30 Uhr
Antwort auf von Kurt O. Wörl
PermalinkDanke für den Hinweis, haben den Fehler nun korrigiert.
Nils Boy am 21.02.2016 um 12:05 Uhr
PermalinkIn dem Artikel steht jedoch keine zeitliche Begrenzung
Catalano am 21.02.2016 um 12:15 Uhr
PermalinkInteressant.
Noch Interessanter aber ist, das zum Themenbereich "Innere Sicherheit" kein Gutachten online ist. Unwahrscheinlich, das hierzu keine Gutachten verfasst sind.
Walter Lungstras am 28.02.2016 um 11:33 Uhr
Antwort auf von Catalano
PermalinkAn Catalano,
ob man/frau "das" oder "dass" schreiben sollte, wird so entschieden:
Kann das "das" durch "dieses" oder "jenes" verständlich ersetzt werden, so bleibt es beim einfachen "s"; z.B.: Das Haus, das brannte, war schön oder Das Haus, welches brannte, war schön.
Kann man kein ersetzendes Wort verwenden, so sind 2 s nötig.
Ich werde mich freuen, dass Sie den Tipp anwenden werden.
Vielen Dank + freundliche Grüße
Ihr Walter Lungstras
Peter Blank am 28.02.2016 um 14:52 Uhr
Antwort auf von Walter Lungstras
PermalinkMeistens werden Fehler in Texte eingebaut, damit die, die immer danach suchen, auch Fehler finden!
Sinan Adem am 27.12.2016 um 15:11 Uhr
Antwort auf von Walter Lungstras
PermalinkKopfschütteln.
Günther Sorgalla am 21.02.2016 um 12:50 Uhr
PermalinkMan könnte als Überschrift für diese Meldung auch den Titel "Ein Tag so wunderschön wie heute" wählen. Wir sollten mit diesem gewonnen Einblick auch etwas anfangen und auf dieser Basis mit den Bundestagsabgeordneten diskutieren. Denn nun haben wir ein wenig mehr Anteil am Wissensvorsprung der Abgeordneten. Es sollte uns dazu beflügeln auf die Änderung der Geschäftsordnung weiter zu drängen, um die Öffentlichkeit bei den Kommissionssitzungen des Bundestages nicht weiter auszuschließen.
Sucher am 22.02.2016 um 13:26 Uhr
PermalinkVielen Dank für Eure Arbeit! Leider sind nicht alle Gutachten verfügbar. Einzelne Gutachten sind einfach nicht da. Hatte mein Augenmerk auf drei Gutachten gerichtet, davon ist nur eins auffindbar.
abgeordnetenwatch.de am 22.02.2016 um 15:06 Uhr
Antwort auf von Sucher
PermalinkVielen Dank für die Blumen :-)
Wir haben den ersten Absatz im Text nun dahingehend ergänzt, dass noch nicht alle Gutachten verfügbar sind.
Man sollte dem Bundestag aber ruhig etwas Zeit geben, um die Gutachten online zu stellen. Wir werden das im Auge behalten.
Viele Grüße
Martin
Wilhelm am 28.02.2016 um 09:33 Uhr
PermalinkNatürlich ist das ein Erfolg .... aber, was werden unsere Herren des angeblich Hohen Hauses als Gegenwehr in die Wege leiten?
Als Beispiel dient mir immer wieder die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korruption nach 11 Jahren (!!) Bedenkzeit. Sie wurde mit einem juristischen Trick ratifiziert, dass die Korruptions-schiene nunmehr legal weitergefahren werden kann. Und niemand bemerkt es? Niemand lehnt
sich dagegen auf.
Michel wach' auf, dass man im Schlaf dich nicht verkauf'!
hma.tornoe am 28.02.2016 um 09:54 Uhr
PermalinkGäbe es wirklich ein Leben nach dem Tode und einen Petrus, der selbstverständlich den
"Abgeordnetenwatch" und nun auch die Gutachten liest; dann würde jetzt der Fahrstuhl von oben ins Tiefgeschoss sicherlich heißlaufen!
Davki am 28.02.2016 um 13:17 Uhr
Permalink"Ausforschen" finde ich in diesem Fall sehr positiv.
Rainer Niemann am 28.02.2016 um 13:31 Uhr
Permalink...Euer Bohren dicker Bretter ist jedenfalls gut und nützlich im Sinne der Bürger - jedoch noch lange nicht am Ende. Weiter so! - damit wir nicht für die Interessen Einzelner, seien es Firmen, Verbände verkauft werden...
Rainer Niemann am 28.02.2016 um 13:32 Uhr
Permalink...Euer Bohren dicker Bretter ist jedenfalls gut und nützlich im Sinne der Bürger - jedoch noch lange nicht am Ende. Weiter so! - damit wir nicht für die Interessen Einzelner, seien es Firmen, Verbände verkauft werden...
Detlev F. Neufert am 28.02.2016 um 16:46 Uhr
PermalinkAuch wenn es blöd klingt, als 68-er bin ich stolz auf Euch!
FrankE am 28.02.2016 um 17:44 Uhr
PermalinkEin kleiner Schritt für mehr Demokratie. jedoch ein großer Schritt für uns Bürger. ;)
Ich befürchte aber auch, das sich nun die Politik wieder etwas neues einfallen lassen wird, damit der Bürger dumm bleibt.
Jürgen am 29.02.2016 um 07:31 Uhr
PermalinkLeider sind doch eine Reihe von interessanten Angaben in den Gutachten geschwärzt. Dies scheint z.B. die Namen derjenigen zu betreffen, die diese Gutachten angefertigt haben. Erstaunlich, dass die Verfasser hier im Dunkeln bleiben (wollen?) und nicht geprüft werden kann, an welcher Stelle diese sonst noch so alles tätig sind.
Aber trotzdem ein schöner Erfolg gegen das Schweigekartell Bundestag!
Georgios Kostelides am 26.12.2016 um 20:38 Uhr
PermalinkIch freue mich. So beginnen wir endlich unserer republikanischen Regierungs-,Staatsform, auch gemäß der Definition von res publica, als öffentliche Angelegenheit/Gegenstand, grundlegend gerecht zu sein.
Mona Göbel am 27.12.2016 um 09:50 Uhr
PermalinkEin wahrlich großer Schritt - ganz herzlichen Dank!
Mich persönlich interessieren alle Gutachten etc. zum Bereich Tierschutzgesetz.
Leider konnte ich hierzu nicht wirklich viel finden.
Habe ich vielleicht an der falschen Stelle gesucht? Ich dachte "Landwirtschaft" wäre der richtige Begriff.
Noch einmal vielen Dank!!!
Mona Göbel
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