Portrait von Wolfgang Weiß
Wolfgang Weiß
DIE LINKE
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Wolfgang Weiß zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Maria R. •

Frage an Wolfgang Weiß von Maria R. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Dr. Weiß,
meine Fragen betreffen eigentlich nicht nur den sozialen Bereich, ich habe jedoch kein passenderes Thema finden können.

Was würden Sie tun, um die Bürger dieses Bundeslandes künftig im Land zu halten, bzw. noch neue dazu zu gewinnen?
Wissen Sie, wie hoch der Anteil der Menschen im dünnbesiedelten ländlichen Raum an der Gesamtbevölkerung in MV ist?
Was würden Sie tun, um diesem Umstand gerecht zu werden?
Glauben Sie, dass Universitäten unabhängig arbeiten können, wenn sie darauf angewiesen sind, Mittel von der Wirtschaft einzuwerben?

Mit freundlichen Grüßen
Maria Rosemeyer

Portrait von Wolfgang Weiß
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrte Frau Rosemeyer,

mit ihren Fragen befinden Sie sich mitten in jenem Thema, das ich seit über 25 Jahren als Wissenschaftler bearbeite und das mich als politischer Mensch zumindest ebenso lange mit Sorge umtreibt. Es ist zugleich ein Hauptthema der Politik der nächsten Jahrzehnte: Die Entwicklung der Bevölkerung und der demographische Wandel.

Dieses Thema sollte man nicht darauf reduzieren, die Bürger künftig im Land zu halten oder wie man etwa noch neue dazugewinnen kann. Das Problem betrifft nämlich nicht nur uns, sondern Deutschland insgesamt, ja Europa. Und es sind Fragen, die sich relativ leicht formulieren lassen, für die es aber keine simple Antwort gibt. Vor fast genau einem Jahr hatte der Bundespräsident eine relativ einfache Beschreibung des Problems versucht: "Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter." ( http://www.bundespraesident.de/-,2.625010/Fernsehansprache-von-Bundespra.htm - Fernsehansprache von Bundespräsident Horst Köhler vom 21.07.2005, Berlin.)

Der Hintergrund dieser Entwicklung ist zum einen erfreulich: Die heute geborenen Kinder haben eine Lebenserwartung von rund 80 Jahren. Das ist Ergebnis ausreichender und guter Ernährung, einer vernünftigen Lebensführung und - trotz aller Probleme, die wir damit haben - auch einer medizinischen Betreuung, von denen unsere Großeltern bestenfalls zu träumen wagten.

Die andere Seite dieser Entwicklung ist bedenklich: In Deutschland werden weniger Kinder geboren, als für den Ersatz der jeweiligen Elterngeneration nötig wäre. Das geschieht nunmehr seit rund 35 Jahren.

Im Ergebnis dieser Entwicklung wird die Einwohnerzahl Deutschlands in Zukunft erheblich schrumpfen. Das geschieht aber nicht gleichmäßig. Einige Regionen sind stärker betroffen, andere weniger, und nur in ganz wenigen Ausnahmen wird es auch noch in den nächsten Jahren einen mäßigen Zuwachs geben. Diese regionalen Unterschiede sind von zwei Faktoren abhängig: Erstens davon, wie viele Kinder geboren werden und wie viele Menschen sterben, was im Wesentlichen von der Altersstruktur der Bevölkerung abhängt. Zweitens verändert sich die Einwohnerzahl durch Zuzüge und Wegzüge, wobei es auch noch erhebliche Unterschiede im Alter der Personen gibt, die daran beteiligt sind. In genau diesem Punkt ist der gesamte Osten Deutschlands seit 1990 erheblich benachteiligt, denn er verlor im Saldo fast anderthalb Millionen Menschen an die westlichen Bundesländer. Dieser Wanderungsverlust hat eine besondere Struktur: Er ist überproportional jung, gut qualifiziert und weiblich!

Vor allem der hohe Anteil junger Frauen unter den Abwandernden ist in Europa einmalig. Ich hatte bereits Anfang der 1990er Jahre in Vorträgen und Publikationen darauf hingewiesen, aber von der etablierten Politik nur Unverständnis geerntet! - Die überproportionale Abwanderung von jungen Frauen mit einer guten Ausbildung vor allem aus ländlichen Räumen ist für unser Land aber nichts Neues, nur lagen vor 1990 die Wanderungsziele in der Industrie von Sachsen und Thüringen. Und wir hatten damals mehr Geburten als Sterbefälle, wodurch das Problem nicht so deutlich wurde.

Heute kann sich die Politik nicht mehr über diese Entwicklung hinweg mogeln. Plötzlich tun jedoch viele Politiker so, als hätten sie den demographischen Wandel selbst "erfunden", und besonders schlimm: Für die meisten Politiker ist diese Entwicklung ein willkommener Anlass für einen gnadenlosen Sozialabbau und um eine neuartige Bevölkerungspolitik zu propagieren. Aber Bevölkerungspolitik hat nichts mit Demographie zu tun, sondern ist eine Politik, die sich lediglich auf Vulgär-Demographie beruft. Damit bezeichne ich jene Demographie, für die es immer nur zu viele, zu wenige oder die falschen Menschen gibt!

Die Konsequenzen einer solchen Politik können fatal sein. Sie will den Menschen vorschreiben, wer wann wo zu wohnen und wer wann wie viele Kinder zu bekommen hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Politik dazu kein Recht hat. Zudem haben wir gerade in der deutschen Geschichte genug negative Beispiele: Die Bevölkerungspolitik der Faschisten mit den Rassengesetzen und dem Mutterkreuz ebenso wie Deportationen und Umsiedlungen im und Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch in der DDR gab es Maßnahmen mit dem Charakter von Bevölkerungspolitik - allen voran die Mauer, die nicht zuletzt gebaut wurde, um der Abwanderung in den Westen zu verhindern!

Auch die Bundesregierung beruft sich auf Demographie und die demographische Entwicklung, um den Renteneinstieg und die Mehrwertsteuer zu erhöhen, weitere Gesundheitskosten auf die Kranken abzuwälzen und vieles mehr. Aber die sozialen Systeme sind nicht wegen der demographischen Entwicklung in Gefahr, sondern wegen der hohen Arbeitslosigkeit, wegen der Steuerentlastung für die Reichsten in dieser Gesellschaft und wegen der enormen Schulden der öffentlichen Kassen. Gleichzeitig werden Kinderlose schon fast öffentlich als Schmarotzer der sozialen Netze diffamiert, obgleich die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf für viele ein unlösbares Problem ist.

Unter diesen Rahmenbedingungen ist die demographische Entwicklung von Mecklenburg-Vorpommern eine besondere. Die Abwanderungen in den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer, als Mecklenburg-Vorpommern eine CDU-geführte Regierung hatte, die seitdem stattfindende Abwanderung vor allem der Berufseinsteiger, die Vergreisung ganzer Dörfer war und ist Realität. In vielen Gemeinden ist die "Senior-Ökonomie" die einzige Zukunftsbranche. Diese Entwicklung stimmt zwar nicht mit unseren Wertvorstellungen und Leitbildern überein, doch es hat keinen Zweck, vor ihr die Augen zu verschließen. Und unabhängig von allen politischen Absichten: Die Wanderungsverluste der letzten 16 Jahre lassen sich ebenso wenig über Nacht ausgleichen, wie die Geburtendefizite einer ganzen Generation. Und wie auch, wo sich doch alle anderen Bundesländer fast in der gleichen Situation befinden. Also müssen wir uns damit arrangieren. So habe ich bereits vor vielen Jahren ein politisches Konzept formuliert, dass bis heute seine Gültigkeit hat:

"Wenn wir wissen, dass wir in der kurzen Zeit von etwa einer Generation von der ,Kinderstube der Nation´ zum ,Altenheim der BRD´ werden - machen wir doch aus der Not eine Tugend und gestalten gezielt das ,Seniorenparadies Deutschlands´. Ein solches ,Seniorenparadies´ kann zunächst nur eine metaphorische Umschreibung einer Region sein, die sich relativ früh auf den demographischen Wandel einstellt, die dafür nötige Infrastruktur und die dazu gehörenden Arbeitsplätze entwickelt, und in der darum auch die jüngeren Generationen ihren Platz haben. Das bedeutet auch, dass dann, wenn das ,Seniorenparadies´ funktioniert, die Jüngeren weniger Angst vor der Zukunft haben, und vielleicht auch genau darum dann wieder mehr Kinder in die Welt setzen. Das ,Seniorenparadies´ soll also eine funktionierende Gesellschaft nach dem demographischen Wandel be- bzw. umschreiben."

Viele Politiker insbesondere anderer Parteien haben ein großes Problem mit einer solchen Sicht auf die Realität und diese Art der Suche nach Lösungen. Das hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass viele Menschen Probleme mit dem Alter haben. Es ist natürlich paradox: Alle wollen lange leben, nur alt werden will niemand. Das hat aber etwas damit zu tun, das Alte in dieser Gesellschaft bisher keinen großen Stellenwert hatten - es sei denn, sie haben sehr viel Geld. Aus meiner Sicht ist das unmenschlich, ein Standpunkt, den ich nicht teile.

Übrigens haben wir in der Wanderungsbilanz des Landes Mecklenburg-Vorpommern in der Altersgruppe der Senioren bereits seit einigen Jahren mehr Zuzüge als Wegzüge, weil immer mehr Menschen unser schönes Land als Alters-Ruhesitz erwählen. Die Landschaft, die Ruhe, gute medizinische Betreuung und viele andere Merkmale sind ein echtes Markenzeichen für MV. Die Wirtschaftsentwicklung unseres Landes mit der Konzentration auf Schwerpunkte wie die Gesundheitswirtschaft, Wellness usw. trägt dem bereits Rechnung.

Einige Städte und Gemeinden haben dieses Konzept verstanden, wie zum Beispiel die Stadt Sassnitz. Vor knapp 30 Jahren war Sassnitz von der Altersstruktur her mit über 32 Prozent in der Altersgruppe Kinder und Jugendliche und nur knapp 11 Prozent in der Altersgruppe Altersrentner die jüngste Stadt der DDR. Zur Jahrtausendwende war die Relation fast auf den Kopf gestellt, denn die Stadt hatte bereits über 28 Prozent Senioren und nur etwa 14 Prozent Kinder und Jugendliche. In der Zwischenzeit ging diese Entwicklung noch weiter. Der Bürgermeister von Sassnitz setzt auf Zuzug von Senioren, gestaltet die Stadt zunehmend altersgerecht. Das entwickelt einen hohen Arbeitskräftebedarf gerade in jenen Berufen, in denen vorrangig junge Frauen tätig sind. Damit haben sie dann auch keinen Grund mehr, abzuwandern - wenn zuletzt nicht noch der Unterschied in der Bezahlung wäre, aber das ist eine Angelegenheit der Tarifpartner. Obgleich: Die Linkspartei will einen gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen. Auch in Tätigkeiten mit geringer Qualifikation soll mit mindestens EUR 8,00 pro Stunde die Arbeit die Sicherung der Existenz ermöglichen!

Nun fragen Sie nach dem ländlichen Raum. Er ist für die Entwicklung gleichwertiger Lebensverhältnisse, wie es im Grundgesetz verankert und im Raumordnungsgesetz als Aufgabe und Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumentwicklung niedergelegt ist, in der Tat ein besonderes Problem. Je geringer die Bevölkerungsdichte, desto höher ist der Aufwand, die Bürger mit öffentlichen Leistungen und Gütern zu versorgen, vor allem im Vergleich mit dicht besiedelten Gebieten und insbesondere den Städten.

Mecklenburg-Vorpommern hat mit rund 1,7 Mio. Einwohnern einen Anteil von etwa 2,1Prozent an der Bevölkerung der BRD. Ihre Frage nach den dünnbesiedelten, ländlichen Räumen verlangt nach einer genaueren Definition bzw. Abgrenzung. In der Raumordnung gelten alle Regionen als "ländlich", deren Bevölkerungsdichte unter 100 Einwohner pro km2 liegt. Das trifft für unser Land als Ganzes zu, denn mit ca. 75 EW/km² haben wir die geringste Bevölkerungsdichte aller Bundesländer; das Land gehört gemeinsam mit Brandenburg zu den "ostelbischen Dünnsiedelgebieten". Wichtige Bevölkerungskonzentrationen sind vor allem die kreisfreien Städte, in denen etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Landes lebt. Zwischen den weitständigen Zentren werden jedoch vielfach nicht einmal 25 EW/km² erreicht. Vor allem dort finden wir jene 40 Prozent aller Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern, in denen nicht einmal 13 Prozent der Bevölkerung des Landes wohnen.

Unter diesen Bedingungen ist unser Bundesland besonders davon betroffen, wenn Deutschland weit in Politik, Wissenschaft und Praxis eine intensive Diskussion darüber entbrannt ist, ob das allgemeine politische Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse unter den heutigen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen noch aufrechterhalten werden kann.

Als Korrespondierendes Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung habe ich mich viele Jahre dafür eingesetzt, dass jene Gebiete besonders beachtet werden, die ich als "Ländlichste Räume" bezeichne. Sie dürfen weder "fallen gelassen" werden noch ist eine solch hohe Förderung angebracht, dass diese Räume auf Kosten anderer Gebiete leben. Meine Formel in dieser Diskussion lautet "regional angemessene Lebensqualität".

Abschließend, sehr geehrte Frau Rosemeyer, zu Ihrer Frage nach der Unabhängigkeit der Universitäten: Die Antwort hat bereits der Volksmund gegeben, als er formulierte: "Des Brot ich esse, des Lied ich pfeife!"

Ich fühle mich dem alten Auftrag der Universitäten verpflichtet, neben der Lehre auf höchstem Niveau vor allem Grundlagenforschung zu leisten. Die angewandte Forschung ist dagegen nicht "minderwertig", hat aber einen anderen Charakter. Sie ist zumindest zur Bestätigung der Hypothesen und Theorien der Grundlagenforschung notwendig. Was gegenwärtig allerdings an den Universitäten dominiert ist Drittmittel-Forschung. Darüber werden oft jene Mittel eingeworben, aus denen der akademische Mittelbau bezahlt wird - eine völlig abwegige Entwicklung!

An dieser Stelle ist vielleicht ein Blick zurück in die DDR hilfreich, ohne dass wir nostalgisch werden wollen: Es gab eine relativ gut funktionierende Arbeitsteilung in der Forschung zwischen Universitäten und den anderen Forschungs- und Bildungseinrichtungen, wie z.B. technischen Instituten, Fachschulen, Ingenieurhochschulen, aber vor allem in den Betrieben. Genau das wurde aber nach 1990 zerschlagen, als die Hochschullandschaft im Osten Deutschlands an den Westen angepasst wurde. Und genau das war bereits Anfang der 1990er Jahre einer der wesentlichen Gründe für die Abwanderung vor allem hoch qualifizierter Menschen aus dem Osten in den Westen. Damit sind wir wieder bei der ersten Frage und finden eine zweite Antwort:

Das wichtigste Instrument, junge Menschen im Lande zu halten, ist eine gute Ausstattung mit Hochschulen und Universitäten. Solche Einrichtungen sind regelrechte "Bevölkerungspumpen", die mindestens in der Zeit des Studiums einen "Abwanderungsfilter" darstellen. Wenn wir es dann noch schaffen, das Regelstudium kostenfrei zu halten und vielleicht sogar etwas "Elternfreundlich", so dass sich mancher Student sogar wieder während des Studiums für ein Kind entscheidet, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,

Ihr Wolfgang Weiß.