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Frage von Robert S. •

Frage an Ties Rabe von Robert S. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie

Sehr geehrter Herr Rabe,

im Abendblatt von heute (8.2.) äußert sich in dem Artikel "Abgeschult - und wohin dann?" ( http://fwd4.me/vIx ) der Abteilungsleiter 5-7 der Stadtteilschule Eppendorf zu der erschreckenden Zahl von Gymnasiums-Abschulungen und damit einhergenden verheerenden Folgen für die betroffenen Kinder und ihre Familien:

"Es bedrückt mich sehr, dass sich so viele Kinder in Hamburg als Versager fühlen, wenn sie das Gymnasium verlassen müssen. Der Lehrer erlebt das Jahr für Jahr, wenn Kinder wie Sina Anfang des siebten Schuljahres - unfreiwillig - an seine Schule kommen. "Es ist ein Verbrechen an den Kindern", sagt Kay Rudolph. Schuld sei das System. Nichts gegen das Elternwahlrecht, sagt Rudolph, "aber wer wünscht, dass die Eltern nach Klasse 4 die Schulform für ihre Kinder wählen dürfen, muss akzeptieren, dass es Opfer gibt". Es gebe leider zu viele Eltern, die es mit ihren Kindern auf dem Gymnasium "mal versuchen" wollten.

...wer wünscht, das die Eltern nach Klasse 4 die Schulform für ihre Kinder wählen dürfen, muss akzeptieren, dass es Opfer gibt...

Herr Rabe, wenn ich mich erinnere hat sich Ihre Partei seinerzeit vehement dafür eingesetzt, diese Möglichkeit zu erhalten.

Wie stehen Sie heute zu Ihrem Kampf um das sogenannte "Elternwahlrecht"?

Was sagen Sie den Opfern (den 400 Kindern, allein aus den 6. Klassen im letzten Schuljahr) zum Trost?

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Schneider,

Sie haben Recht. Politik muss eine Entscheidung treffen. Es gibt innerhalb unseres Schulsystems zwei grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten, mit den Themen "Elternwahlrecht" und "Abschulung" umzugehen:

1. Wenn Eltern und Kindern das Recht haben, sich nach Klasse 4 jede weiterführende Schule auszusuchen, entsteht immer das Problem, dass einige Eltern und Kinder eine Schulform wählen, der das Kind nicht gewachsen ist. Unter diesen Bedingungen lassen sich Abschulungen vom Gymnasium nach Klasse 6 nicht vermeiden.

2. Die - theoretische (s.u.) - Alternative wäre, dass Eltern und Kinder sich die weiterführende Schulform nicht aussuchen dürfen. Stattdessen würden dann die Lehrer über die Kinder entscheiden. Dann könnte die Schulbehörde theoretisch anordnen, dass die dem Gymnasium zugewiesenen Kinder dort so gefördert werden müssen, dass es zu keinen Abschulungen kommt.

Beide Wege bieten Chancen und Risiken. Politik muss abwägen. Die SPD hat sich sehr klar für den ersten Weg entschieden. Das liegt aber auch daran, dass die von Ihnen als Ausweg angedeutete Alternative - die Abschaffung des Elternwahlrechts - in Wahrheit nichts besser macht.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand:

Die Alternative, das Elternwahlrecht abzuschaffen, bietet keinswegs die Chance, Abschulungen zu vermeiden. Es gibt eine Reihe von anderen Bundesländern, in denen die Eltern die weiterführende Schulform nicht frei wählen können. Aber auch hier sind Abschulungen vom Gymnasium nicht verschwunden. Das liegt zum Teil daran, dass einige Gymnasien in solchen Bundesländern noch weniger den Gedanken des Förderns und noch stärker den Gedanken des Forderns betonen. Hier muss sicherlich in allen Schulformen mehr geleistet werden. Es liegt aber auch daran, dass sich Lehrer - genau so wie die Eltern - schlicht mit ihrer Prognose und Entscheidung irren können. Die Praxis zeigt deshalb: Die Abschaffung des Elternwahlrechts vermeidet eben nicht die späteren Abschulungen.

Das liegt auch daran, dass Prognosen über den künftigen Schulweg von Kindern kaum möglich sind. Wir alle kennen die Beispiele von Nobelpreisträgern, die in der Schule versagten. Oder Geschichten vom Klassenprimus, der im Leben scheiterte. Hier wird deutlich, was das Leben reich und spannend und Schulpolitik eben schwierig macht: Niemand weiß, ob ein Schüler mit guten Leistungen in Klasse 4 in Klasse 7 noch genau so gut ist. Und unter den Abgeschulten sind folgerichtig oft auch Kinder, die eigentlich eine Gymnasialprognose bekommen hatten. Wegen dieser Risiken der "Lehrerprognose" ist die Abschaffung des Elternwahlrechtes eben kein Ausweg aus dem Dilemma.

Damit wären wir beim nächsten Argument. Die Kehrseite der Abschulungen sind eben auch viele Kinder, die durch das Elternwahlrecht eine Chance bekommen und diese Chance auch nutzen. In mehreren Anfrage an den Senat habe ich aufgedeckt, dass ein Fünftel der am Gymnasium angemeldeten Schüler keine Gymnasialempfehlung bekommen haben. Mehr als zwei Drittel dieser Schüler aber schaffen das Abitur - obwohl ihnen das die Lehrer nach Klasse 4 gar nicht zugetraut haben. So gesehen ist die Elternwahl sogar genauer als die Lehrerprognose.

Zu Recht verweisen Sie darauf, dass Abschulungen für Kinder eine schwere seelische Belastung darstellen. Als Vater und Lehrer habe ich solche Situationen zu oft erlebt, als dass ich dieses Argument nicht von Herzen teilen würde. Aber wenn wir die Praxis in Ländern ohne Elternwahlrecht betrachten, dann erkennen wir schnell: Leid, Quälerei und Tränen werden mit der Abschaffung des Elternwahlrechts nicht abgeschafft, sondern nur verlagert. Und zwar in die Grundschule. Ich habe mir beispielsweise die Verhältnisse in Bayern genau angesehen, wo mit dem Grundschulzeugnis Klasse 4 ganz klar über die weiterführende Schule entschieden wird. Dort beginnt bereit für viele Achtjährige ein ungeheurer Lernstress und Zensurendruck, weil alle wissen: Das Zeugnis nach Klasse 4 entscheidet über den weiteren Lebensweg. Nachhilfeunterricht, Hausaufgabenmarathon, Tränen und Streit zu Hause gibt es bei diesem System genauso, aber es beginnt noch viel früher. Darin kann ich keine Alternative sehen.

Zum Schluss noch ein grundsätzliches Argument: Schule greift in einem ganz erheblichen Maße in Erziehung und Lebensgestaltung von Kindern und Eltern ein. Schule ist nicht freiwillig, sondern Pflicht. Schule ist deshalb stärker als viele andere von der Politik und dem Staat gestaltete Lebensbereiche auf die Akzeptanz von Eltern und Kindern angewiesen. Akzeptanz entsteht durch gute Schulen, Akzeptanz entsteht aber auch durch Beteiligung. Deshalb sollten Eltern und Kinder so gut es geht über ihre Schulen mitentscheiden können. Die allermeisten Eltern sehen das genau so. Das zeigte nicht zuletzt der leidvolle Schulkampf der letzten Jahre, in dem das Elternwahlrecht - trotz des Problems der Abschulungen - eine entscheidende Rolle gespielt hat. Deshalb ist für uns das Elternwahlrecht ein hohes Gut, für das wir uns - auch in Kenntnis der damit verbundenen Probleme - immer eingesetzt haben und es auch weiterhin tun werden.

Herzliche Grüße

Ties Rabe
Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
Schulpolitischer Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion