Stefan Boxler
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Jörg S. •

Frage an Stefan Boxler von Jörg S. bezüglich Gesundheit

Was halten Sie persönlich von der Drogenfreigabe und wie ist die Meinung Ihrer Partei dazu?

Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Sehm,

vielen Dank für Ihre Frage, die ich Ihnen wie folgt beantworten möchte:

In Zusammenhang mit der Absage der Wahlkampftour der PDS-Jugend wurde wieder die Debatte um die Legalisierung von Drogen angeregt. Dabei wird von Seiten der PDS behauptet, die Grüne Jugend Sachsen fordere die Legalisierung aller – auch harter – Drogen.

Die Grüne Jugend Sachsen fordert nicht die Freigabe aller Drogen, sondern die Entkriminalisierung der Abhängigen. Diese sind kranke Menschen, die medizinischer und psychologischer Betreuung bedürfen. Durch staatlich geführten Fachhandel sollen weiche Drogen wie Cannabis abgegeben werden, damit der organisierten Kriminalität und dem illegalen Drogenhandel der Boden entzogen werden kann. Gleichzeitig kann auf diese Weise die Beschaffungskriminalität unterbunden werden.

Unsere Position ist klar. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen auf Vorsorge, Entkriminalisierung und Hilfe.

Dieser Standpunkt erfordert natürlich eine differenzierte Betrachtungsweise, die ich Ihnen gerne näher erläutern möchte:

1. Wie ist die Situation?

Die Debatte über Drogenpolitik ist nicht mehr so stark von Polemik und ideologischen Scheuklappen geprägt wie früher. Wir sind vielmehr einer parteiübergreifenden rationalen Drogenpolitik (Ausnahme Cannabis) einen großen Schritt näher gekommen. Bei den harten Drogen ist Überlebens- und Ausstiegshilfe statt Strafverfolgung inzwischen auch in CDU-regierten Bundesländern Praxis.

Cannabiskonsum wird im Gegensatz zum Konsum von Alkohol und Tabak weiterhin dämonisiert. Die Politik der Kriminalisierung ist gescheitert. Trotz Strafverfolgung konsumieren immer mehr und immer jüngere Menschen Cannabis und Haschisch. Wir erreichen weit mehr durch Prävention, Aufklärung und - wo notwendig - Therapie. Zudem erschwert die Kriminalisierung Aufklärungsarbeit: Wer über Cannabiskonsum offen spricht, gerät schnell in den Verdacht, für den Konsum zu werben.

Der Konsum von legalen und illegalen Drogen stagniert auf einem hohen Niveau, der Cannabiskonsum nimmt zu:

Alkohol: Ca. 1,6 Millionen Menschen (2,4 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahren) sind alkoholabhängig, Alkoholmissbrauch liegt bei 2,65 Millionen Menschen (4 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahren) vor. Damit verbunden sind etwa 40.000 alkoholbedingte Todesfälle pro Jahr, 238.000 Straftaten unter Alkoholeinfluss und etwa 33.000 Verkehrsunfälle mit Personenschaden.

Tabak: Etwa 37 Prozent der über 18-jährigen Männer und 28 Prozent der gleichaltrigen Frauen rauchen. Der Anteil der rauchenden Männer sinkt, der der rauchenden Frauen steigt. Erschreckend ist, dass das Einstiegsalter von rauchenden Mädchen und Jungen immer weiter sinkt. Die tabakbedingten Todesfälle werden auf jährlich 111.000 geschätzt (43.000 Krebs, 37.000 Kreislauf-, 20.000 Atemwegserkrankungen).

Arzneimittel: 1,3-1,4 Millionen Menschen sind in Deutschland arzneimittelabhängig. Etwa 5-6 Prozent der am häufigsten verschriebenen Arzneimittel (z.B. Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel) besitzen ein Suchtpotential. Schätzungen gehen davon aus, dass 30-35 Prozent der Medikamente nicht wegen akuter medizinischer Probleme sondern zur Vermeidung von Entzugserscheinungen verordnet werden.

Cannabis: Der Cannabiskonsum steigt seit Jahren kontinuierlich an. Hatten im Jahr 1980 14,4 Prozent der 18-24-Jährigen Erfahrungen mit Cannabis, so waren es im Jahr 2003 bereits 42,7 Prozent dieser Altersgruppe. JedeR vierte 18-20-Jährige und jedeR fünfte der 21-24-Jährigen hat im letzten Jahr Cannabis konsumiert. Durchschnittlich rauchen Jugendliche mit 15,4 Jahren ihren ersten Joint.

Harte illegale Drogen werden von ca. 250 - 300.000 Menschen konsumiert. Seit dem Jahr 2000 sinkt die Zahl der Rauschgifttoten kontinuierlich. Im Jahr 2003 starben 1.477 Menschen, im Jahr 2000 waren es noch 2030.

2. Was haben wir gemacht? Erfolge der letzten 7 Jahre

Das Modellprojekt heroingestützte Behandlung nähert sich seinem Ende. Ziel ist die Zulassung von Heroin als Arzneimittel, um langfristig für Schwerstabhängige, bei denen eine Methadonsubstitution (noch) nicht in Frage kommt, eine Behandlung anbieten zu können.

Die Substitutionsbehandlung mit Methadon oder anderen zur Substitution geeigneten Mitteln ist, dank unserer Bemühungen, als wichtiger Bestandteil der Behandlung Opiatabhängiger mittlerweile unbestritten. Seit Oktober 2002 kann nun bei allen Abhängigen eine von den Krankenkassen zu finanzierende Substitutionstherapie aufgenommen werden. Voraussetzung ist eine begleitende psychosoziale Beratung (diese muss von Kommunen bzw. Kreisen finanziert werden).

3. Warum haben wir etwas nicht erreicht?

Sowohl die Internationalen Suchtabkommen als auch das Betäubungsmittelgesetz ermöglichen es, Drogen zur Behandlung von Krankheiten zu verschreiben. Praxis ist dies z.B. bei Morphium, angestrebt wird dies bei Heroin (s.o.). Auch bei Cannabis zeigen Studien gute Wirkungen, z.B. gegen Übelkeit bei Chemotherapien oder zur Appetitanregung bei Aidskranken. Trotz Verabredungen im Koalitionsvertrag konnten hier keine analogen arzneimittelrechtlichen Regelungen geschaffen werden, die auch in Deutschland Cannabis als Medizin verfügbar machen.

4. Wie geht es in dem Bereich weiter?

Wir haben in unserem neuen Grundsatzprogramm klargestellt, das Sucht und Abhängigkeit nicht allein gesundheitliche Probleme sind. Süchte haben komplexe Ursachen und erfordern den vorurteilsfreien und humanen Umgang, z. B. durch das Angebot freiwilliger Therapien. Vielfältigere Suchtformen machen differenziertere Behandlungsmethoden notwendig. Wir stehen für das Prinzip: Aufklärung und Prävention sowie Therapie und Hilfe statt Strafe. Es muss in die Primärprävention investiert werden, um Suchtprobleme bereits im Vorfeld dort zu verhindern, wo die Möglichkeit besteht. Das Thema Sucht geht alle an; denn Sucht hat auch soziale Ursachen, wie z. B. Jugendarbeitslosigkeit und emotionale Schutzlosigkeit von Kindern und Jugendlichen.

Die Straffreiheit von CannabiskonsumentInnen bleibt ebenso unser Ziel wie die Veränderungen im Fahrerlaubnisrechts. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bestärken uns darin, weiter für dieses Ziel einzutreten.

Um die Schadensminderung auszubauen, fordern wir außerdem Angebote zur chemischen Inhaltsstoffanalyse (Drugchecking) von illegalen Drogen wie Ecstasy-Tabletten, um die Risiken des unkontrollierten Drogenschwarzmarkts einzudämmen.

Die Werbung für legale Drogen aller Art soll, insbesondere im Rahmen des Kinder- und Jugendschutzes, weiter eingeschränkt werden.

5. Die PDS

Die PDS will zwar laut Wahlprogramm 2002 "den Drogenkonsum von Abhängigen entkriminalisieren" und "Cannabis nach dem Vorbild europäischer Nachbarn liberalisieren". In den Bundesländern, in denen die PDS mittlerweile mitregiert, hat sie aber bislang keinerlei Initiative ergriffen. Zu vermuten ist auch, dass die drogenpolitischen Positionen der Bundespartei kaum Rückhalt bei der PDS-Basis im Osten Deutschlands haben.

6. Was werfen uns die anderen vor?

„Die Grünen interessiert in der Drogenpolitik eh nur die Cannabislegalisierung“

Dies trifft nicht zu. Der Politikwandel im Bereich der harten Drogen (insb. Heroin), der statt auf Strafe auf die Stärkung der Überlebenshilfe und Schadensminimierung setzt, wurde von der Grünen Christa Nickels in ihrer Zeit als Drogenbeauftragte der Bundesregierung initiiert. Ebenfalls originär grün ist das In-den-Blick-Nehmen aller Drogen – nicht nur der illegalen. Denn faktisch machen uns die legalen Drogen Nikotin und Alkohol die meisten Probleme. Bei diesen Politikwechseln konnten sich die anderen Parteien nicht wirklich entziehen. Ganz anders ist dies bei der emotional hoch aufgeladenen Frage Cannabis. Deshalb konzentrieren sich die Vorwürfe auch auf diese Frage.

„Cannabis ist gefährlicher als Nikotin und Tabak“

Cannabis führt im Gegensatz zu Tabak und Alkohol nicht zu einer körperlichen Abhängigkeit. Dadurch, dass Cannabis in der Regel gemeinsam mit Tabak konsumiert wird, besteht oft jedoch eine parallele Nikotinabhängigkeit. Auf der psychischen Ebene (starker Wunsch zu konsumieren) kann es auch bei Cannabis zu Abhängigkeitssymptomen kommen. Geschätzt wird, dass 4 – 7 Prozent aller CannabiskonsumentInnen eine Abhängigkeit entwickeln. Das Abhängigkeitsrisiko für Alkohol und Tabak liegt bedeutend höher.

Aber Cannabiskonsum ist nicht risikolos. Der Stoff darf nicht verteufelt werden. Stattdessen müssen Jugendliche aufgeklärt und in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt werden.

„Cannabiskonsum führt zu psychischen Problemen“

Diese Aussage trifft auf einen geringen Teil der KonsumentInnen – diejenigen mit intensivem Cannabiskonsum - zu. Intensiver Cannabiskonsum ist oft mit anderen psychischen Problemen verbunden. Kontrovers diskutiert wird, ob Cannabis Auslöser oder "nur" Verstärker solcher Probleme ist. Ebenso bestehen Zusammenhänge zwischen problematischen familiären und sozialen Situationen und starkem Cannabiskonsum.

„Prävention ist auch ohne Legalisierung möglich“

Ja, aber nur sehr eingeschränkt. Cannabisprävention ist immer eine Gratwanderung, bei der man sehr schnell mit dem Strafrecht in Konflikt kommen kann. Ein Hinweis darauf, dass wenn man schon Cannabis raucht, dieses nicht in Kombination mit Alkohol tun sollte, kann gegebenenfalls als Aufforderung zum Konsum einer illegalen Droge interpretiert werden. Das Strafrecht (und der damit verbundene Skandal) führt oft auch dazu, dass in Schulen bewusst weggesehen wird, statt präventiv zu handeln. Ein problematischer Cannabiskonsum Jugendlicher weist sehr oft auf weitere Probleme hin. An dieser Stelle hinzusehen und zu handeln ist unter Präventionsgesichtspunkten zentral.

„Die Legalisierung von Cannabis führt zu mehr KonsumentInnen“

Ein Blick über die Grenzen nach Holland (mit der Möglichkeit legal Cannabis in "Coffee-shops" zu erwerben) zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Holländische Jugendliche konsumieren weniger Cannabis als deutsche Jugendliche.

„Mit einer Legalisierung von Cannabis würden die Anfänge einer Drogenkarriere gesetzt“

Einstiegsdroge Nr. 1 für Jugendliche ist Tabak. Zeitlich danach folgt der Alkoholkonsum und an dritter Stelle der Cannabiskonsum. Deshalb ist die beste Prävention vor zu frühem Cannabiskonsum die Tabakprävention.

Eine Legalisierung von Cannabis würde zu einer Trennung der Märkte von weichen und harten Drogen führen und damit den Schritt hin zu harten Drogen eher erschweren.

7. AnsprechpartnerInnen

Annette Rausch, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Biggi Bender (MdB)
Fon: 030/227-71667
Email: biggi.bender.ma01@bundestag.de

Claudia Tietz, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Jerzy Montag (MdB)
(rechtliche Aspekte Cannabis)
Fon: 030/227-72006
Email: jerzy.Montag.ma02@bundestag.de

Bundesnetzwerk Drogenpolitik von Bündnis 90 / Die Grünen
http://www.bndrogenpolitik.de/

Drogenpolitisches Grundsatzprogramm der Grünen Jugend:

http://www.bndrogenpolitik.de/drogenpolitisches-grundsatzprogramm-der-grunen
-jugend/

Ich möchte mich daher für eine offene Drogenpolitik einsetzen, die auf dem Zugang zu sauberen und dosierbaren Drogen basiert. Sie sollen im Fachhandel nach kompetenter Beratung in kontrollierten Mengen abgegeben werden. Das ist nicht nur für die Drogenabhängigen hilfreich; sie sind immerhin keine Kriminellen, sondern kranke Menschen. Deren Kriminalisierung setzt nicht bei der Lösung des Drogenproblems an.

Für weitere Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Stefan Boxler