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Frage von Uwe M. •

Frage an Sabine Leidig von Uwe M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Leidig,

Sie haben in ihrer jüngsten Rede zur Bürgerbeteiliung im Bundestag gesagt, die Bürger wären durchaus in der Lage, sich mit komplexen Themen auseinander zu setzen; insofern sollten sie mehr mitbestimmen dürfen.

Nun gab es zum Thema Stuttgart 21 (Tieferlegung des Bahnhofs) eine lang andauerende Informationsphase, bei der auch in den normalen Medien Informationen zugänglich waren, die dieses Projekt sehr unwirtschaftlich erscheinen lassen - allerdings mußte man sich gründlich informieren und durfte nicht danach gehen, welche "Wahrheit" am häufigsten geschrieben wird.

Das Ergebnis des Volksentscheids kennen Sie, und Sie kennen sicher auch Frau Dahlbenders Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 24.7. wo sie sagt:

´Der für November geplanten Volksabstimmung würden die Gegner sich jedoch beugen, sagte Dahlbender der Zeitung weiter. "Wenn eine klare Mehrheit für Stuttgart 21 stimmt, geben wir unseren Widerstand auf." Das müsse aber umgekehrt auch für die Bahn und den Bund gelten.´

Quelle: http://www.sueddeutsche.de/politik/umstrittenes-bahnprojekt-stuttgart-gegner-nehmen-an-stresstest-praesentation-teil-1.1124170-2

Konsequenz ist nun, dass die Grünen in der Landesregierung sagen: dieses Volksabstimmungsergebnis müssen nun alle akzeptieren.

Meine Fragen:

1. Sind Volksabstimmungen sinnvoll, bei denen es nicht nur um die Artikulierung des grundsätzlichen Bedarfes der Bevölkerung geht, sondern um die Beurteilung von Fakten, bei denen sich die Fachleute ständig widersprechen?

Im zweiten Fall hätte man bei dem Bahnprojekt eine Demokratisierung der Wissenschaft. Welche Risiken ein Projekt beinhaltet, kann man nicht demokratisch bestimmen, auch nicht, ob es unwirtschaftlich sein darf, oder ob ein Stresstest manipuliert wurde.

2. Sehen Sie eine Zweckentfremdung der Volksabstimmung in Baden Württemberg?
3. Welche Verbesserungen müssen hier gesetzlich festgelegt werden, damit sich Fehler dieser Art nicht wiederholen können.

m.f.G.
Uwe Mannke

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Mannke,

ich bedanke mich für die an mich gerichteten Fragen und freue mich, wenn meine letzte Bundestagsrede Anlass für Sie war, diese an mich zu richten. Ich kenne nicht das zitierte Interview von Frau Dahlbender, doch die Grundaussage ist mir geläufig. Eine vergleichbare Auffassung wurde auch von Boris Palmer vorgetragen, worauf ich zusammen mit anderen in einer ausführlichen Antwort einging. Darauf komme ich zurück.

Ich halte grundsätzlich eine Position "man muss sich an das Ergebnis von Volksabstimmungen halten", für fragwürdig. Man muss solche Volksabstimmungen respektieren, die Umstände derselben abwägen und dies bei dem weiteren politischen Agieren berücksichtigen. Wenn das Anliegen, wofür man - in diesem Fall: die Minderheit - sich einsetzte, weiterhin grundsätzlich als richtig anerkannt wird, dann sollte man dies selbstverständlich weiterhin sagen und sich - insoweit dafür die Kräfte da sind - weiterhin in diesem Sinn engagieren. Eine Volksabstimmung beendet ja nicht den demokratischen Prozess und hebelt auch nicht das Demonstrationsrecht aus...

Nehmen wir das Beispiel Atomkraft: Es gibt seit den 1970er Jahren eine breite Bewegung gegen Atomkraft. Leider gab es bei uns keine Volksabstimmungen zu diesem Thema. Im Nachbarland Schweiz gab es solche jedoch. Dabei unterlagen bis vor Fukushima die Atomkraftgegnerinnen und -gegner mehrmals. Dennoch mobilisierten sie immer wieder neu für ein Abschalten aller AKW. Nach Fukushima sollte ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung unternmmen werden - und nun hätten die AKW-Gegner ziemlich sicher gewonnen. Die Schweizer Regierung kam dem zuvor und beschloss einen generellen Ausstieg aus der Atomkraft, auch wenn dieser eher zu spät komplett realisiert werden soll. Käme das Prinzip zur Anwendung, dass man nach einer Volksabstimmung deren Ergebnis zu akzeptieren hätte, dann hätten die Atomkaftgegner nach der ersten Abstimmungsniederlage schweigen müssen. Dann hätte es jedoch womöglich auch nicht den aktuellen Durchbruch mit dem Sieg der Atomkraftgegner gegeben, wie wir ihn jetzt nicht nur in der Schweiz erlebt haben.

Das heisst also: Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist sehr gut begründet. Diese sachlichen Argumente wurden mit der Volksabstimmung am 27. November 2011 nicht widerlegt. Bei einigen Aspekten gibt es heute sogar mehr und neue Gründe, S21 abzulehnen. Siehe unten meine Verweise auf das Thema "Kapazität" von S21. Also bleibt der Widerstand berechtigt.

Nun zu Ihren konkreten Fragen:

Ihre erste Frage "Sind Volksabstimmungen sinnvoll, bei denen es nicht nur um die Artikulierung des grundsätzlichen Bedarfes der Bevölkerung geht, sondern um die Beurteilung von Fakten, bei denen sich die Fachleute ständig widersprechen? Im zweiten Fall hätte man bei dem Bahnprojekt eine Demokratisierung der Wissenschaft. Welche Risiken ein Projekt beinhaltet, kann man nicht demokratisch bestimmen, auch nicht, ob es unwirtschaftlich sein darf, oder ob ein Stresstest manipuliert wurde" ist nicht ganz einfach zu beantworten. Natürlich ist es Unsinn, über die Frage, ob "zwei und zwei fünf (oder doch eventuell vier)" sei, abstimmen zu lassen. Auch sollte man nicht über die Aussage, "Die Erde ist eine Scheibe (oder vielleicht doch eine Kugel?)" abstimmen lassen. Das Problem ist jedoch: Wer entscheidet, ob das "eine Sachfrage" ist, worüber abgestimmt werden soll?

Meines Erachtens muss eine Gesellschaft sich auf einen Grundkatalog von Rechten und Werten einigen, die NICHT in Frage gestellt werden dürfen - auch nicht durch Volksabstimmungen. Meinungsfreiheit, demokratische Grundrechte, die Rechte von Minderheiten, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die generelle Ablehnung von Angriffskriegen gehören zu diesem Katalog.

Alle anderen Themen können grundsätzlich Themen bei Volksabtimmungen sein. S21 also in jedem Fall.

Ihre Frage 2: "Sehen Sie eine Zweckentfremdung der Volksabstimmung in Baden Württemberg?" würde ich mit einem "verhaltenen Ja" beantworten. Aber möglicherweise nicht so, wie Sie das vielleicht gemeint haben.

Ich fand drei Dinge bei der konkreten Durchführung einer Volksabstimmung zu S21 höchst fragwürdig:

Erstens geht es bei S21 in erster Linie um ein großes Bahnhofsprojekt in einer Stadt. Es ist Sache der Bevölkerung in dieser Stadt Stuttgart, über diesen Bahnhof zu entscheiden. Eine landesweite Entscheidung war von vornherein falsch. Das hat die Bewegung gegen S21 vor Ort, in Stuttgart und Region, auch immer so vertreten - möglicherweise nicht laut genug. Und als dann die Landesregierung die landesweite Abstimmung beschlossen hat, sind hunderte S21-Gegnerinnen und Gegner aus Stuttgart ausgeschwärmt, um auch andernorts ein passables Ergebnis zu erkämpfen. Das hat die Kräfte der S21-Gegnerinnen und Gegner in der Landeshauptstadt geschwächt, weil sie sich nicht auf Stuttgart selbst konzentrieren konnten. Dagegen standen in weiten Teilen Baden-Württembergs nicht nur Bürgermeister und Landräte, mit ihren jeweils besonderen Zugängen zu den regionalen Medien, sondern auch IHK und Arbeitgeberverband, die darüber hinaus erhebliche Summen investierten, um beispielsweise die Ausstiegskostenlüge flächendeckend zu plakatieren.

Zweitens war die Fragestellung des Volksentscheids problematisch und latent manipulativ. Man konnte nicht pro und contra Stuttgart 21 abstimmen, sondern über die Frage des Ausstiegs aus dem Projekt. Das hat die Bedeutung von "Ja" und "Nein" verkehrt und viele verwirrt. Das Argument, das sei aus juristischen Gründen so notwendig gewesen, überzeugt mich nicht. Es geht um Politik, und wo ein politischer Wille ist, da findet sich bei eriner solchen Thematik auch ein Weg. In diesem Sinn gab es nach der Landtagswahl vom 27. März 2011 auch praktische und begehbare Vorschläge.

Drittens gab es zwischen der Landtagswahl im März und der Volksabstimmung im November 2011 mehrere konkrete Sachthemen, zu denen die Landesregierung hätte aktiv werden müssen, um die Entscheidung, um die es geht, für die Bevölkerung transparent zu machen. Besonders deutlich war und ist dies noch heute beim Thema der Kapazität des jetzigen Kopfbahnhofs und des S21-Tiefbahnhofs. Es ist schlicht sachlich beweisbar, dass die nachgewiesene Kapazitität des Kopfbahnhofs deutlich größer ist als die mögliche Kapazität eines achtgleisigen Tiefbahnhofs. Dass diese wesentliche Tatsache unter der Regierung von Ministerpräsident Mappus weg-manipuliert wurde, ist noch nachvollziehbar. Dass jedoch eine Regierung unter MP Kretschmann dies der Bevölkerung nicht offensiv dargelegt hat, ist aus meiner Sicht unverzeihlich.
Die große Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg ging davon aus, dass S21 schon irgendwie eine Verbesserung des Schienenverkehrs und einen Bahnhof mit größerer Kapazität mit sich bringen würde (was schließlich in dem simulierten und - ebenfalls nachgewiesenermaßen - manipulierten "Stresstest" von der DB-AG behauptet wurde). Und so wurde S21 ja 17 Jahre lang verkauft: ein moderner, größerer, effizienterer Bahnhof...
Hätten sie gewusst, dass ein Abbau von Bahn-Kapazität stattfinden soll, wäre die Abstimmung wahrscheinlich anders ausgegangen.

Ihre Frage 3 "Welche Verbesserungen müssen hier gesetzlich festgelegt werden, damit sich Fehler dieser Art nicht wiederholen können" bedarf sicherlich, wenn sie ernsthaft und umfassend beantwortet würde, gründlicherer Überlegungen, als ich sie hier anstellen kann. Schließlich ist direkte Demokratie in Deutschland ein völlig unterbelichteter - aber für eine lebendige Demokratie essentieller - Bereich. Ich sprach oben bereits an, wie meines Erachtens ein Grundkonsens entwickelt werden muss, über was abgestimmt werden kann und über was nicht.
Sodann ist zu klären, ob nicht eine Art "Subsidiaritätsprinzip", so dass die direkt Betroffenen für die jeweilige Entscheidung maßgeblich sind. Beispielsweise gab es in Karlsruhe Bürgerentscheide über einen innerstädtischen U-Bahn-Tunnel, die "U-Strab". In dieses Bauwerk fließen auch Landesmittel und es ist in seinen Dimensionen (bei Berücksichtigung der geringeren Bevölkerungszahl) nicht ganz so weit entfernt von S21. Dennoch kam niemand auf die Idee, über die U-Strab landesweit abstimmen zu lassen.

Des weiteren müsste es klarere Regeln darüber geben, wie Fragestellungen für die Abstimmungen formuliert werden müssen. Je direkter, desto besser. Je indirekter und verklausulierter, desto größer ist das Manipulations-Potential.

Schließlich müsste es einen klar umrissenen Zeitraum der intensiven Debatte und Werbung und in dieser Zeit eine echte Chancengleichheit geben. Das betrifft vor allem die finanziellen (teilweise auch personellen) Ressourcen und den Zugang zu den Medien.

Zum Schluss möchte ich Sie auf zwei nach der Volksabstimmung entstandene Texte hinweisen, die zusätzliche Argumente zur Beantwortung Ihrer Fragen liefern:
ein Offener Brief an MP Kretschmann, u.a. von Walter Sittler, Sigrid Sittler-Klausmann, Egon Hopfenzitz: http://www.bei-abriss-aufstand.de/wp-content/uploads/Antwort-auf-MP-Kretschmann.pdf
und eine Antwort auf die Position von Boris Palmer, die ich mit verfasste: http://www.nachhaltig-links.de/index.php/bahn/stuttgart-21/978-antwort-auf-palmer

Ich hoffe, Ihre Fragen zufriedenstellend beantwortet zu haben und grüße Sie freundlich
Sabine Leidig

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Mannke,

ich bedanke mich für die mir gestellten Fragen und freue mich, wenn dafür meine letzte Bundestagsrede der Anlass war. Ich kenne jetzt nicht das zitierte Interview von Frau Dahlbender im Einzelnen, doch die generelle Aussage darin ist wohl bekannt. Eine vergleichbare Auffassung wurde auch von Boris Palmer vorgetragen, worauf ich noch zurückkomme.
Ich halte grundsätzlich eine Position "man muss sich an das Ergebnis von Volksabstimmungen halten", für fragwürdig. Man muss solche Volksabstimmungen respektieren, die Umstände derselben abwägen und dies bei dem weiteren politischen Agieren berücksichtigen. Wenn das Anliegen, wofür man - in diesem Fall: die Minderheit - sich einsetzte, weiterhin grundsätzlich als richtig anerkannt wird, dann sollte man selbstverständlich dies weiterhin sagen und sich - insoweit die Kräfte noch vorhanden sind - weiterhin in diesem Sinn engagieren.

Nehmen wir das Beispiel Atomkraft: Es gibt seit den 1970er Jahren eine breite Bewegung gegen Atomkraft. Leider gab es bei uns keine Volksabstimmungen zu diesem Thema. Im Nachbarland Schweiz gab es solche jedoch. Dabei unterlagen bis vor Fukushima die Atomkraftgegnerinnen und -gegner mehrmals. Dennoch mobilisierten sie immer wieder neu für ein Abschalten aller AKW. Nach Fukushima sollte ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung unternmmen werden - und nun hätten die AKW-Gegner ziemlich sicher gewonnen. Die Schweizer Regierung kam dem zuvor und beschloss einen generellen Ausstieg aus der Atomkraft, auch wenn dieser eher zu spät komplett realisiert werden soll. Käme das Prinzip zur Anwendung, dass man nach einer Volksabstimmung deren Ergebnis zu akzeptieren hätte, dann hätten die Atomkaftgegner nach der ersten Abstimmungsniederlage schweigen müssen. Dann hätte es jedoch womöglich auch nicht den aktuellen Durchbruch mit dem Sieg der Atomkraftgegner gegeben, wie wir ihn jetzt nicht nur in der Schweiz erlebt haben.

Das heisst also: Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist sehr gut begründet. Diese sachlichen Argumente wurden mit der Volksabstimmung am 27. November 2011 nicht widerlegt. Bei einigen Aspekten gibt es heute sogar mehr und neue Gründe, S21 abzulehnen. Siehe unten meine Verweise auf da sThema "Kapazität" von S21. Also bleibt der Widerstand berechtigt.

Nun zu Ihren konkreten Fragen:

Ihre erste Frage

"Sind Volksabstimmungen sinnvoll, bei denen es nicht nur um die Artikulierung des grundsätzlichen Bedarfes der Bevölkerung geht, sondern um die Beurteilung von Fakten, bei denen sich die Fachleute ständig widersprechen? Im zweiten Fall hätte man bei dem Bahnprojekt eine Demokratisierung der Wissenschaft. Welche Risiken ein Projekt beinhaltet, kann man nicht demokratisch bestimmen, auch nicht, ob es unwirtschaftlich sein darf, oder ob ein Stresstest manipuliert wurde."

ist nicht ganz einfach zu beantworten. Natürlich ist es Unsinn, über die Frage, ob "zwei und zwei fünf (oder doch eventuell vier)" sei, abstimmen zu lassen. Auch sollte man nicht über die Aussage, "Die Erde ist eine Scheibe (oder vielleicht doch eine Kugel?)" abstimmen lassen. Das Problem ist jedoch: Wer entscheidet, ob das "eine Sachfrage" ist, worüber abgestimmt werden soll?

Meines Erachtens muss eine Gesellschaft sich auf einen Grundkatalog von Rechten und Werten einigen, die NICHT in Frage gestellt werden dürfen - auch nicht durch Volksabstimmungen. Meinungsfreiheit, demokratische Grundrechte, die Rechte von Minderheiten, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Ablehnung der Todesstrafe, die grundsätzliche Ablehnung von Angriffskriegen (z.B. als Mittel der Politik) gehören zu diesem Katalog. Ich tendiere auch zu der Auffassung, dass einmal getroffene Entscheidungen überprüfbar und rückholbar sein müssen. Letzteres heisst für mich, dass Entscheidungen pro Atomkraft oder pro Gentechnik eine Eigendynamik entfalten können, dass sie kaum mehr rückholbar sind und dass daher eine Abstimmung mit Ja und Nein zur Zulassung solcher "Techniken" extrem fragwürdig und beispielsweise gegenüber späteren Generationen verantwortungslos ist.

Alle anderen Themen können grundsätzlich Themen bei Volksabtimmungen sein. S21 also in jedem Fall.

Ihre Frage 2: "Sehen Sie eine Zweckentfremdung der Volksabstimmung in Baden
Württemberg?" würde ich mit einem "verhaltenen Ja" beantworten. Aber möglicherweise nicht so, wie Sie das gemeint haben.

Ich fand drei Dinge bei der konkreten Durchführung einer Volksabstimmung zu S21 höchst fragwürdig:

Erstens geht es bei S21 in erster Linie um ein großes Bahnhofsprojekt in einer Stadt. Es ist Sache der Bevölkerung in dieser Stadt Stuttgart, über diesen Bahnhof zu entscheiden. Eine landesweite Entscheidung war von vornherein falsch. Das hat die Bewegung gegen S21 vor Ort, in Stuttgart und Region, auch immer so vertreten - möglicherweise nicht laut genug. Und als dann die grün-rote Landesregierung die landesweite Abstimmung beschlossen hat, sind hunderte S21-Gegnerinnen und Gegner aus Stuttgart ausgeschwärmt, um doch landesweit ein gutes oder passables Ergebnis zu erkämpfen. Das hat notgedrungen die Kräfte der S21-Gegnerinnen und Gegner in der Landeshauptstadt enorm geschwächt; sie konnten sich nicht auf Stuttgart selbst konzentrieren.

Zweitens war die Fragestellung des Volksentscheids problematisch und latent manipulativ. Man konnte nicht pro und contra Stuttgart 21 abstimmen, sondern über die Frage des Ausstiegs aus dem Projekt. Das hat die Bedeutung von "Ja" und "Nein" verkehrt und viele verwirrt. Das Argument, das sei aus juristischen Gründen so notwendig gewesen, überzeugt mich nicht. Es geht um Politik, und wo ein politischer wille ist, da findet sich bei einer solchen Thematik auch ein Weg. In diesem Sinn gab es nach der Landtagswahl vom 27. März 2011 auch praktische und begehbare Vorschläge.

Drittens gab es zwischen der Landtagswahl im März und der Volksabstimmung im November 2011 mehrere konkrete Sachthemen, zu denen die Landesregierung hätte aktiv werden müssen, um die Entscheidung, um die es geht, für die Bevölkerung transparent zu machen. Besonders deutlich war und ist dies noch heute beim Thema der Kapazität des jetzigen Kopfbahnhofs und des S21-Tiefbahnhofs. Es ist schlicht sachlich beweisbar, dass die nachgewiesene Kapazitität des Kopfbahnhofs deutlich größer ist als die mögliche Kapazität eines achtgleisigen Tiefbahnhofs. Dass diese Banalität unter der Regierung eines MP Mappus weg-manipuliert werden konnte, ist noch einigermassen llziehbar. Dass jedoch eine Regierung unter einem MP Kretschmann das der Bevölkerung nicht nachvollziehbar und offensiv klarmachte, ist nicht nachvollziehbar und unverzeilich. Selbst in der an alle baden-württembergischen Haushalte versandten Informationsschrift zur Vorbereitung der Volksabstimmung steht auf den Seiten, die die Grünen im Landtag - also die S21-Gegner und die führende Partei in der Koalitionsregierung - zu verantworten hatten, nur, man bekomme für "viel Geld wenig Bahnhof". Es hätte jedoch heißen müssen - und man hätte groß herausstellen müssen, dass man "für viel Geld WENIGER Bahnhof" bekommt, dass hier für fünf bis zehn Milliarden Euro ein KapazitätABBAU geplant ist.

Wenn diese physikalische, eisenbahntechnische Binsenweisheit klar kommuniziert worden wäre, hätte es nie und nimmer eine Mehrheit für S21 bzw. ein mehrheitliches Nein zum Ausstieg aus der S21-Finanzierung gegeben. Die große Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg ging davon aus, dass S21 schon irgendwie eine Verbesserung des Schienenverkehrs und einen Bahnhof mit größerer Kapazität mit sich bringen würde. Und genau so wurde S21 ja 17 Jahre lang verkauft: ein moderner, größerer, effizienterer Bahnhof...

Ihre Frage 3 "Welche Verbesserungen müssen hier gesetzlich festgelegt werden, damit
sich Fehler dieser Art nicht wiederholen können" bedarf sicherlich, wenn sie ernsthaft und umfassend beantwortet würde, gründlicherer Überlegungen, als ich sie hier anstellen kann. Schließlich ist direkte Demokratie in unserem Land ein völlig unterbelichteter - aber für eine lebendige Demokratie essentieller - Bereich. Ich sprach oben bereits an, wie meines Erachtens ein Grundkonsens entwickelt werden muss, über was abgestimmt werden kann und über was nicht.
Sodann ist zu klären, dass, ähnlich dem Föderalismus, das Prinzip gelten muss, wonach die direkt Betroffenen für eine jeweilige Entscheidung maßgeblich sind. Beispielsweise gab es in Karlsriuhe Bürgerentscheide über einen innerstädtischen Tunnel, die "U-Strab". In dieses Bauwerk fließen durchaus auch Landesmittel. Und es ist in seinen Dimensionen und bei Berücksichtigung der untrerschiedlichen Bevölkerungszahl nicht ganz so weit entfernt von S21. Dennoch kam niemand auf die Idee, über die U-Strab landesweit abstimmen zu lassen.

Des weiteren müsste es klarere Regeln darüber geben, wie Fragestellungen für die Abstimmungen formuliert werden müssen. Je direkter, desto besser. Je indirekter und verklausulierter, desto größer ist das Manipulations-Potential. Siehe oben.

Schließlich müsste es einen klar umrissenen Zeitraum der intensiven Debatte und Werbung und in dieser Zeit eine echte Chancengleichheit geben. Das betrifft vor allem die finanziellen und teilweise auch personellen Ressourcen derjenigen, die nicht offizielle Institutionen und große Medien hinter sich haben. Bei der Volksabstimmung am 27. November dürften die S21-Befürwroter mindestens zehn Mal mehr Finanzmittel zur Verfügung gehabt haben wie die S21 Gegnerinnen und Gegner.

Im übrigen verweise ich auf die von mir mit verfasste Antwort auf die Position von Boris Palmer. Dieser findet sich angehängt bzw., wenn das technisch nicht machbar ist, auch auf der von mir mit betriebenen Website nachhaltig-links.de (unter Mobilität / Bahn / Stuttgart 21).

Ich hoffe, Ihre Fragen zufriedenstellend beantwortet zu haben, grüße
Sie freundlich und wünsche Ihnen ein paar erholsame Tage über Ostern:

Sabine Leidig