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Frage von Maximilian S. •

Frage an Matthias Heider von Maximilian S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Dr. Heider,

ich zitiere den Artikel 146 des deutschen Grundgesetzes:

"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Dieser Artikel bedeutet für mich, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland keine Verfassung besitzen, die jedoch für einen Staat, der sich selbst als demokratisch bezeichnet, unabdingbar ist.

Warum wird den Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf eine selbst akzeptierte Verfassung selbst nach der deutschen Einigung von 1989/90 weiterhin verwehrt, wenn jedoch alle Voraussetzungen dafür vorhanden sind?

Über eine klare Antwort würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Maximilian Schmelzer

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Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr Schmelzer,

haben Sie vielen Dank für Ihre Email vom 7. März 2012, in der Sie auf die Ablösung des Grundgesetzes durch eine Verfassung nach Art. 146 Grundgesetz (GG) eingehen. Gerne möchte ich Sie auf folgendes hinweisen:

Das Verhältnis der Verfassungsänderung bis hin zur völligen Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung nach Art. 146 GG ist eine wichtige Frage der grundgesetzlichen Ordnung. Ihre Anmerkungen, dass eine Verfassung für Deutschland unabdingbar sei und darüber hinaus den Bürgerinnen und Bürgern verwehrt bleibe, lassen nicht das Spannungsfeld von Art. 146 GG und Art. 79 GG erkennen und gehen in ihrer Aussage zu kurz.

Vorab: Art. 146 GG gibt eine verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit wieder und besitzt wenn überhaupt nur deklaratorische Bedeutung. Denn dem Grundsatz der Volkssouveränität entspricht es, dass auch Akte einer Verfassungsgebung jederzeit möglich sind, ohne dass es hierzu einer konstitutionellen Ermächtigung bedürfte. Einer solchen konstitutionellen Ermächtigung bedarf nur das Verfahren der Verfassungsänderung. Verfassungsgebung ist ursprüngliche und primäre Staatsgewalt; sie aktualisiert sich und gilt unabhängig von bestehenden konstitutionellen Legitima-tionszusammenhängen.

Zunächst die historischen Fakten: Der ursprüngliche, durch den Parlamentarischen Rat beschlossene Wortlaut des Art. 146 GG war folgender: „Dieses GG verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Was sich dahinter verbirgt, lässt sich erkennen, wenn Art. 146 GG im Zusammenhang mit der ursprünglichen Präambel des GG gelesen wird. Der Parlamentarische Rat stellte dort fest, dass das deutsche Volk das GG beschlossen habe, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“; es habe bei diesem Beschluss „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“, und das „gesamte Deutsche Volk“ bleibe aufgefordert, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Inhaltlich zielte Art. 146 in seiner ursprünglichen Fassung demnach auf die Wiedervereinigung: Das im Hinblick auf die Wiedervereinigung als vorläufig gedachte GG sollte seine Gültigkeit verlieren, wenn das gesamte deutsche Volk aus Anlass der Wiedervereinigung eine neue Verfassung beschließt. So sollte verhindert werden, dass das geltende GG ein Hindernis für die Wiedervereinigung darstellt; diese Vorschrift stellte eine Brücke her zu einer neuen, anlässlich der Wiedervereinigung beschlossenen Verfassung und legitimierte damit auch etwaige unter dem geltenden GG im Zuge der Wiedervereinigung durchzuführende Vorbereitungen einer solchen Verfassungsgebung. Die Wiedervereinigung war somit der einzige Anwendungsfall, den der Parlamentarische Rat für eine legale Verfassungsgebung vorgesehen hatte. Sieht man von diesem einzigen möglichen Fall ab, war das GG durch Art. 79 Abs. 3 GG in seinem Kernbereich vor Änderungen absolut geschützt (sog. Unabänderlichkeitsgarantie).

Die Wiedervereinigung wurde dann bekanntlich ohne Verfassungsgebung vollzogen; sie fand allein im Wege des Beitritts der DDR statt. Schließlich wurde im Zuge der vereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen Art. 146 GG um den Relativsatz ergänzt, der klarstellen sollte, dass das GG „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“. Diese Neuregelung des Art. 146 GG (anstelle seiner Streichung) war ein politischer Kompromiss, der die Möglichkeit, im Kontext der Wiedervereinigung auch nach dem Beitritt der DDR noch eine Verfassungsgebung in die Wege zu leiten, offenhalten sollte.

Entscheidend für das Verständnis des geänderten Art. 146 GG ist nun die Regelungsbefugnis des verfassungsändernden Gesetzgebers bei der Änderung des Art. 146 GG. Die vereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen stellten keinen Akt der Verfassungsgebung dar und waren daher an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber konnte also den Anwendungsbereich des Art. 146 GG gegenüber seiner ursprünglichen Fassung nicht über den Ausnahmefall der Wiedervereinigung hinaus erweitern; die Legalisierung von Verfassungsgebungsakten ohne Bezug auf die Wiedervereinigung war ihm nicht möglich. Würde man Art. 146 GG n. F. als anlasslose Legalitätsbrücke zu jeglicher neuen Verfassung verstehen, dann wäre damit die den Kern des GG bewahrende Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG wirkungslos geworden; zu einem solchen Eingriff in die Grundstruktur des GG war der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 1990 nicht befugt.

Zusammenfassend möchte ich deutlich machen, dass Art. 146 GG n. F. keinen legalen Weg für einen Akt der Verfassungsgebung eröffnet; diese Vorschrift hat inzwischen allenfalls noch deklaratorische Bedeutung, indem sie auf die faktische Möglichkeit einer Verfassungsgebung außerhalb des Legalitätskontextes des GG verweist.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Matthias Heider