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Jürgen Kucharczyk
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Frage von Thorsten H. •

Frage an Jürgen Kucharczyk von Thorsten H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Kucharczyk,

wie stehen Sie zu der geplanten Änderung des GG Art.23 (1), zum Zweck der Ratifizierung des EU-Vertrags?
Laut dem neuen Artikel 23 (1) soll die Übertragung von Souveränitätsrechten ausdrücklich auf die Europäische Union übergehen.
Dieses schafft die Souveränität des deutschen Staates faktisch zum Vorteil einer undemokratischen EU-Vormundschaft ab, die sich zu einem Bürokratiemonstrum entwickelt hat, bei dem die Bedürfnisse der Wähler außerhalb der Wahlkampfperioden praktisch keine Rolle mehr spielen.

Diese Vorgehensweise verstößt ganz eindeutig gegen den Art.20(2) des GG , „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Nach Art.79 (3) GG ist jede grundsätzliche Änderung der Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes ausgeschlossen, also auch Art.20(2). Die obige EU-Bestimmung würde bedeuten, dass alle Staatsgewalt letztlich von der EU und nicht mehr vom deutschen Volke ausginge. Also nicht nur ein Verfassungsbruch als solcher, sondern sogar eine klare Verletzung der Ewigkeitsklausel der Artikel 1 bis 20 - seinerzeit die Basis der Genehmigung des Grundgesetzes durch die Alliierten als von jedem Zugriff ausgeschlossener Grundsätze.

Es entsteht der Eindruck, daß diese Konstante - unsere Verfassung - nur so lange Gültigkeit besaß, wie sie mit den politischen Ambitionen amtierender Politiker verträglich war, während man bei veränderter politischer Zielsetzung zum Einklang mit internationalen Interessen die Grundpfeiler unserer freien und demokratischen Grundordnung ganz nach belieben bis zur Unkenntklichkeit verbiegen darf.
Artikel 20 (4) GG besagt eindeutig, daß eine derartige Änderung keinerlei dauerhaften rechtmäßigen Bestand haben kann.
Ist sich dieser Tatsache im Bundestag überhaupt noch irgendjemand bewußt oder müssen wir Wähler uns auf noch weitere, tiefgreifendere Veränderungen in unserer, nur noch demokratischen Grundordnung einstellen? Für Ihr Antwort danke ich im Voraus.

Mit freundichen grüßen
Thorsten Hausen

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Hausen,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 12. März 2008, in dem Sie sich zum Vertrag von Lissabon, dem Vertrag zur Reform der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union, äußern.

Die Übertragung vormals nationaler Zuständigkeiten an die EU ist der Kern der europäischen Integration. Schon mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1951 übertrugen die sechs Gründungsstaaten die Kompetenz der Zollpolitik für die Güter Kohle und Stahl an eine ihnen übergeordnete Behörde. Das Ziel war damals wie heute, einen gemeinsamen europäischen Markt zu schaffen, Vertrauen durch Zusammenarbeit zu stiften und infolgedessen Frieden und Wohlstand in Europa zu fördern. Die Übertragung von Zuständigkeiten an die EU ist also nicht neu und hat sich bewährt.

Es gilt (weiterhin) Artikel 5 Absatz 1 des EU-Vertrages in der Fassung von Lissabon: ?Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung.? Das heißt, die EU ist nur in den Bereichen zuständig, die ihr durch die Verträge übertragen worden sind (die ausschließlichen und geteilten Zuständigkeitsbereiche der Union sind in den neuen Artikeln 2 b und 2 c des AEUV aufgeführt; ausschließlich zuständig ist die EU vor allem bei der Wettbewerbs-, Zoll-, sowie Handels- und Währungspolitik). Die teilweise Übertragung von einzelnen Kompetenzen auf Gremien der EU bedeutet deshalb auch nicht die Aufgabe der Souveränität, sondern drückt die Bereitschaft aus, bestimmte Entscheidungen in einem Staatenverbund zu treffen.

Eine "Generalvollmacht" (die sogenannte Kompetenz-Kompetenz) hatte die Europäische Kommission nie und wird sie auch zukünftig nicht haben. Welche Zuständigkeiten die EU ausüben darf, steht in den EU-Verträgen und die Verträge werden von den mittlerweile 27 EU-Staaten verhandelt, unterzeichnet und müssen schließlich von 27 nationalen Parlamenten sowie dem EP ratifiziert werden.

Ihre Bedenken, dass durch den Vertrag von Lissabon das deutsche Grundgesetz "untergraben" bzw. die "Souveränität des deutschen Staates abgeschafft" würde, sind unbegründet.

Ich hoffe, dass ich Ihre Frage beantworten konnte. Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen werden wir unser Bestes tun, um zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins beizutragen und die Bürgerinnen und Bürger über den Vertrag von Lissabon zu informieren.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Kucharczyk