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Christine Scheel
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Frage von Francis W. K. •

Frage an Christine Scheel von Francis W. K. bezüglich Soziale Sicherung

Kürzlich gab es die Möglichkeit, bei einer E-Petition für das bedingungslose Grundeinkommen abzustimmen. Mehr als 50.000 Menschen haben diese Petition gezeichnet.

Meine Fragen:
1. Wann wird sich der Bundestag mit diesem Thema befassen?
2. Wie stehen die Grünen zu diesem Thema?
3. Wie stehen Sie persönlich zu diesem Thema?
4. Wann werden Arbeit und Einkommen voneinander getrennt?
5. Wann wird das Recht auf Einkommen im Grundgesetz verankert?

Was ich als Dozent bei Kursen mit Arbeitslosen und HARTZ IV
Empfängern erfahren habe, ist in der Tat erschreckend. Götz Werner, Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens bezeichnet HARTZ IV als offenen Strafvollzug - dem muss ich leider zustimmen.

1949 wurden im Grundgesetz folgende Artikel aufgenommen:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.

Wie sieht unsere Realität heute aus?

Jeder Bundesbürger, der damals arbeiten wollte, hatte auch die Möglichkeit dazu. Es gab genügend Arbeit. Heute gibt der Arbeitsmarkt längst nicht mehr allen Menschen in unserem Land die Möglichkeit, durch Arbeit Einkommen zu erzielen. Das bedeutet, dass mehrere Millionen Menschen, Tendenz steigend, nicht mehr in Würde leben können: keine Arbeit - kein Einkommen.

In Brasilien ist das Recht auf Einkommen bereits im Grundgesetz verankert. Es wird Zeit, das auch in Deutschland zu tun.

Unsere Bundesregierung hat bewiesen, dass sie schnelle Entscheidungen treffen kann, wenn es um Notsituationen geht. Innerhalb einer Woche war das 500 Milliarden Rettungspaket für Banken in Not geschnürt und verabschiedet.

In unserem Land sind viele Millionen Menschen in Not. Ich erachte es als Pflicht aller Abgeordneten, diese Not umgehend zu lindern.

Einkommen ist Menschenrecht, ein bedingungsloses Grundeinkommen entspricht christlichen Wertvorstellungen.

Herzlichst

Francis W. Körbel

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Körbel,

vielen Dank für Ihre Email zu Fragen des bedingungslosen Grundeinkommens.Bedingungslose, einheitliche Leistungen sind mit einem grundsätzlichen Problem verknüpft: Erhalten alle die gleiche Leistung, muss sie recht hoch sein, um auch Menschen in besonderen Lebenslagen verlässlich abzusichern. In diesem Fall ist sie nicht finanzierbar oder nur durch Preisgabe sozialer Infrastruktur. Wenn die Leistung niedrig angesetzt wird, so deckt sie die sozialen Hilfebedarfe nicht mehr zuverlässig ab und muss von einem umfangreichen Ergänzungskatalog begleitet werden. Dieser muss weit mehr als Wohngeld und Leistungen für behinderte Menschen umfassen, um als sozial gerecht gelten zu können. Gerade ein Vorschlag, der zur Finanzierung nahezu alle Regelungen für individuelle Lebenssituationen bei der Einkommensteuer streicht, hat bei Menschen in Ausbildung, die Angehörige pflegen, Unterhalt zahlen oder alleinerziehend sind, eine deutliche Gerechtigkeitslücke.

Eine gerechte Verteilungswirkung ergibt sich nicht automatisch daraus, dass das Grundeinkommen bedingungslos gewährt werden soll. Warum sollte es gerecht sein, Menschen mit Mitteln der Solidargemeinschaft zu unterstützen, wenn sie das gar nicht benötigen? Das Willkürverbot in Artikel 3 des Grundgesetzes bringt es schön auf den Punkt: Es ist verboten, Gleiches ungleich zu behandeln, aber erlaubt, Ungleiches ungleich zu behandeln. Es ist deshalb geboten, den mit einer Behinderung verbundenen Mehraufwand abzudecken. Aber es ist keinesfalls geboten, ein Grundeinkommen von der Höhe her so zu bemessen, das man diesen Aufwand auch denen erstattet, die gar nicht behindert sind.

Mehr Gestaltungsfreiheit? Die neue Freiheit für Erwerbspausen, Existenzgründung, Teilzeit, Elternzeit und ehrenamtliches Engagement wurde von der Grundeinkommensidee von Götz Werner mit über 1000 Euro Auszahlung übernommen. Die im Antrag des Landesverbandes der Grünen von Baden Württemberg vorgeschlagenen 420 Euro ermöglichen das bei weitem nicht. Zudem kommen sie bei Erwerbstätigen nur zum Teil an, denn die Besteuerung des Erwerbseinkommens kann auch bei niedrigen Einkommen im Vergleich zu heute schnell um mehrere hundert Euro steigen. Den Gegensatz zwischen Finanzierbarkeit und einer ausreichenden Höhe kann das vorgeschlagene Modell nicht auflösen. Im Ergebnis müssen sich die Antragsteller mit einem bescheidenen Sockelbetrag begnügen, der die versprochenen grundlegenden Änderungen nicht erreichen kann und dennoch enorme Finanzvolumina erforderlich macht. Das vorgeschlagene Grundeinkommen liegt in der Gesamtschau unter den Sätzen, die heute mit dem ALG II inklusive Sonderbedarfen erreicht werden können.

Insgesamt entsteht durch eine solche Form von Grundeinkommen ein sehr starker Druck, durch kleine Beschäftigungen im Lohndumpingbereich das Lebensnotwendige ergänzend zu erwirtschaften. Damit ist das Grundeinkommen den Kombilohnmodellen der Union verdächtig nahe. Ich habe deshalb im November 2007 auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Nürnberg auch das Grundeinkommenskonzept des Landesverbandes Baden-Württemberg abgelehnt und den beschlossenen Antrag „Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit“ unterstützt. –siehe Anlage -

Mit freundlichen Grüßen

Christine Scheel

Anlage: BDK Beschluss Bündnis 90/Die Grünen, „Aufbruch zu neuer
Gerechtigkeit“, Nürnberg, November 2007