Erst „nicht auffindbar“, dann plötzlich da: Im Kanzleramt und in Ministerien tauchen immer wieder Unterlagen auf, die es offiziell gar nicht gibt. Werden dort heimlich Parallelakten geführt?
KI-generiert / von abgeordnetenwatch nachbearbeitet
Wenig Zeit? Die Recherche in 1 Minute
In der Bundesregierung werden brisante Unterlagen immer wieder als „nicht vorhanden“ bezeichnet – bis sie später doch auftauchen.
Bei der Pipeline Nord Stream 2 behauptete das Auswärtige Amt jahrelang, keine Unterlagen zu Lobbytreffen zu besitzen – bis es kurz vor einem Gerichtstermin plötzlich doch einen geheimen Vermerk vorwies.
Auch im Kanzleramt tauchten Lobbydokumente auf, die zuvor als unauffindbar galten (z.B. zu BMW und Thyssenkrupp).
Ein Insider aus einem Bundesministerium berichtet, sensible Vorgänge würden gezielt außerhalb der offiziellen Akten gelagert – in sogenannten „Giftschränken“, wie er dem Magazin Spiegel sagte.
Experten halten das für rechtswidrig, da relevante Informationen vollständig veraktet werden müssen.
Trotzdem lässt sich gegen Verstöße meist nicht gerichtlich vorgehen.
Auf Nachfrage wollten Kanzleramt und mehrere Ministerien die Existenz von „Giftschränken“ nicht ausdrücklich verneinen.
Nur das Verkehrsministeriumschloss eine parallele Aktenstruktur explizit aus.
Kurz vor einem Gerichtstermin Ende September passiert, womit niemand mehr gerechnet hatte. Das Auswärtige Amt präsentiert plötzlich ein Dokument – einen bislang unbekannten Gesprächsvermerk.
Seit 2022 streiten abgeordnetenwatch und das Außenministerium über die Herausgabe von Unterlagen zur Ostseepipeline Nord Stream 2. Es geht um Gespräche auf höchster Ebene. Zwischen 2015 und 2017 trafen sich die damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel (beide SPD) sowie der deutsche Botschafter in Moskau mehr als ein Dutzend Mal mit den Chefs des russischen Energiekonzerns Gazprom und der Betreiberfirma Nord Stream 2 AG. Bei einem dieser Treffen, einem Abendessen, saß auch Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) mit am Tisch – der Mann, der hinter den Kulissen als Lobbyist und Türöffner für das Pipelineprojekt wirkte.
Auch das Gericht hat Zweifel
Das Gerichtsverfahren bringt Erstaunliches ans Licht. Im Archiv des Ministeriums finden sich Aufzeichnungen zu Terminen mit verschiedenen Unternehmen, darunter Shell und Uniper – doch ausgerechnet zu den Treffen mit Gazprom und der Nord Stream 2 AG gibt es: nichts. Bei einem Projekt dieser Tragweite? Kaum zu glauben.
picture alliance / dpa | Wolfgang Kumm
Zwei Männer im Dienste der Pipeline: Gerhard Schröder und Gazprom-Chef Alexej Miller trafen sich mit der Bundesregierung – Unterlagen dazu existieren nicht oder sind geheim.
Auch das Gericht hat Zweifel. Es lädt mehrere Mitarbeiter:innen des Auswärtigen Amts, um aufzuklären, ob Informationen existieren und wie überhaupt gesucht wurde. Dann nimmt der Fall eine Wendung. Kurz vor dem Gerichtstermin am 26. September gelingt dem Ministerium, was drei Jahre lang unmöglich schien: Es findet ein Dokument.
Ein Muster wird sichtbar
Der Fund ist heikel. Es handelt sich um einen Gesprächsvermerk über ein Treffen zwischen Außenminister Steinmeier und Gazprom-Chef Alexej Miller vom 13. April 2015 in Berlin zur “Erweiterung der Nord Stream-Gaspipeline”. Doch der Inhalt bleibt unter Verschluss. Die Herausgabe des als vertraulich eingestuften Dokuments könne “nachteilige Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen” haben, so das Auswärtige Amt.
Der jahrelange Streit um die Nord Stream 2-Unterlagen folgt einem vertrauten Muster. Immer wieder erklären Ministerien und das Kanzleramt, bestimmte Dokumente seien in den Akten nicht auffindbar – bis sie später doch auftauchen.
Der verschwundene Vermerk
So auch 2016. Damals suchte das Kanzleramt auf Antrag von abgeordnetenwatch nach einem pikanten Schreiben der bayerischen Staatskanzlei. Die Staatsregierung von Horst Seehofer (CSU) hatte die Forderungen des Autobauers BMW nach lockereren EU-Abgasregeln nach Berlin geschickt – mit der Bitte, die Bundesregierung möge sich in Brüssel entsprechend positionieren.
Die Suche blieb angeblich erfolglos. „In den Akten des Bundeskanzleramtes konnten keine einschlägigen Unterlagen ermittelt werden“, hieß es. Das war erstaunlich, denn der Süddeutschen Zeitung lag der Vermerk vor, sie hatte ausführlich daraus zitiert.
Plötzlich ist das Papier doch da
Warum also blieb er im Kanzleramt unauffindbar? Die naheliegendste Erklärung: Wenn sich "in den Akten" nichts finden lässt, muss der Vermerk an anderer Stelle aufbewahrt worden sein.
Screenshot abgeordnetenwatch
Die Bayerische Staatskanzlei schickte diese Lobbyforderungen von BMW ans Kanzleramt. Dort konnte man das Papier angeblich nicht finden – nach öffentlichem Druck tauchte es dann doch auf.
Als abgeordnetenwatch und STERN-Journalist Hans-Martin Tillack die Geschichte öffentlich machten, geschah das, was in solchen Fällen immer wieder geschieht. Plötzlich war das Dokument da – samt einer E-Mail der bayerischen Staatskanzlei, die das Kanzleramt um „vertrauliche Behandlung“ des Vorgangs bat.
Ob der Vermerk je ordnungsgemäß registriert wurde, ist bis heute unklar. Ein Regierungssprecher verweigert dazu jede Auskunft.
Verräterisch ist das Wort “amtlich”
In einem weiteren Fall musste abgeordnetenwatch das Kanzleramt erst verklagen, um an Unterlagen zu kommen. Dabei ging es um Lobbygespräche des damaligen Kanzlers Olaf Scholz (SPD) und seines Staatsministers Jörg Kukies mit dem Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel. Wieder erklärte die Behörde, es gebe keine „amtlichen Informationen“.
Verräterisch ist hier das Wort “amtlich”. Denn nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG), auf das sich abgeordnetenwatch berief, müssen Behörden nur “amtliche Informationen” herausgeben. Ob ein Dokument amtlich ist, entscheidet die bearbeitende Person.
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Erst vor Gericht räumte das Kanzleramt ein: Ja, es gibt doch Dokumente zu Treffen von Kanzler Olaf Scholz mit Thyssenkrupp-Lobbyist Sigmar Gabriel (hier 2015).
Erst vor Gericht räumte das Kanzleramt ein, dass man bei einer „neuerlichen Recherche“ doch noch Dokumente gefunden habe. Da wurde klar, warum die Behörde zuvor mauerte. Die Unterlagen zeigen, wie leicht der Milliardenkonzern Zugang zur Spitze der Bundesregierung erhielt – über seinen damaligen Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel, Parteifreund von Scholz und Kukies sowie früherer Bundesminister und Vizekanzler.
Heikle Unterlagen werden ausgesiebt, sagt ein Beamter
Der Verdacht, dass brisante Dokumente gar nicht erst veraktet werden, wird durch einen Insider gestützt. Der Beamte aus einem Bundesministerium berichtete dem SPIEGEL, die Hausleitung lagere heikle Vorgänge gerne an anderer Stelle – in einem „Giftschrank“, wie er es nennt.
Experten halten das für klar rechtswidrig. “Wenn relevante Unterlagen in einem Ministerium außerhalb des offiziellen Aktenbestandes aufbewahrt würden, wäre das illegal”, sagt Bernhard W. Wegener, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er verweist auf die aktuelle Rechtsprechung, wonach Behörden eine ordnungsgemäße Aktenführung sicherzustellen haben. “Ordnungsgemäß heißt, dass alles in den Akten sein muss. Giftschränke gehören nicht dazu.”
Verstöße sind oft nicht justiziabel – die Rechtslage:
Das Auslagern oder Nichtverakten dienstlich relevanter Unterlagen in Bundesministerien ist unzulässig. Zu dieser Bewertung kommen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Alle entscheidungsrelevanten Informationen sind demnach „vollständig, wahrheitsgemäß und nachvollziehbar“ in den Akten zu dokumentieren. Grundlage dafür ist das Rechtsstaatsprinzip. Aber: Verstöße gelten lediglich als interne Pflichtverletzungen, deswegen sind sie in der Regel nicht direkt justiziabel. Werden Unterlagen jedoch gezielt beiseite geschafft oder gelöscht, um einen Informationszugang zu verhindern (zum Beispiel über das Informationsfreiheitsgesetz), kann dies eine „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“ darstellen – und einen Anspruch auf Wiederbeschaffung auslösen.
Staatliche Verschwiegenheit – ein Erbe monarchischer Herrschaft
In seiner Habilitationsschrift „Der geheime Staat – Arkantradition und Informationsfreiheitsrecht“ (2006) beschreibt Wegener, dass staatliche Verschwiegenheit ein Erbe monarchischer Herrschaft ist. Das habe die Verwaltung über Jahrhunderte als exklusiven Macht- und Wissensbereich geprägt.
Entsprechend schwer tun sich Beamt:innen bis heute mit Transparenz. Der Insider berichtet, einen „Giftschrank“ habe es im Ministerium immer schon gegeben. Doch seit Inkrafttreten des Informationsfreiheitsgesetzes im Jahr 2006 sei er deutlich gewachsen. Manche Kolleg:innen, so seine Beobachtung, würden brisante Vorgänge inzwischen gar nicht mehr verakten – aus Angst, sie könnten durch IFG-Anträge an die Öffentlichkeit gelangen.
Angst vor Transparenz
Die Sorge, vertrauliche oder gar geheime Dokumente könnten durch das IFG öffentlich werden, ist unbegründet. Das Gesetz enthält zahlreiche Schutzklauseln. Unterlagen, die die innere oder äußere Sicherheit gefährden, behördliche Beratungen betreffen oder personenbezogene Daten und Geschäftsgeheimnisse enthalten, dürfen nicht herausgegeben werden.
Offenbar geht es also um etwas anderes: um Dokumente, die eigentlich herausgegeben werden müssten, aber im Verborgenen bleiben sollen – etwa, weil sie einen Minister oder eine Ministerin in ein schlechtes Licht rücken könnten.
Nicht veraktet: Die Textnachrichten zwischen Minister Lindner und Porsche-Chef Blume seien zu unbedeutend, behauptete das Finanzministerium. Erst durch eine Klage von abgeordnetenwatch wurden sie öffentlich.
So wie im Fall von Christian Lindner (FDP). Im Sommer 2022 geriet der damalige Finanzminister wegen seiner Nähe zu Porsche-Chef Oliver Blume in die Schlagzeilen. Rund um eine EU-Abstimmung über das geplante Verbrenner-Aus hatte sich der erklärte Porschefan Lindner mit dem Autolobbyisten per SMS ausgetauscht. Als abgeordnetenwatch Einsicht in die Nachrichten verlangte, lehnte das Finanzministerium den Antrag ab. Die SMS seien zwar vorhanden, aber nicht veraktet, hieß es – sie seien zu unbedeutend.
Nach einer Klage von abgeordnetenwatch verurteilte das Berliner Verwaltungsgericht das Ministerium zur Herausgabe der Textnachrichten. Über deren Relevanz kann sich nun jede:r selbst ein Bild machen (mehr: Das sind die Porschegate-SMS von Christian Lindner und Oliver Blume).
Giftschrank? Das wollen Ministerien nicht ausschließen
abgeordnetenwatch hat das Kanzleramt sowie mehrere Ministerien gefragt, ob es dort “Giftschränke” gibt. Die Antworten fielen zunächst erwartbar aus. Man halte sich strikt an die Vorgaben und verakte Unterlagen nachvollziehbar und transparent, teilten das Kanzleramt, das Wirtschafts-, das Finanz- und das Innenministerium mit.
Ob die Existenz eines „Giftschranks“ damit ausgeschlossen sei? Auf Nachfrage reagierten die Behörden dann ausweichend. Man habe den vorherigen Ausführungen “nichts hinzuzufügen“. Ein Dementi ist das nicht.
Nur vom Bundesverkehrsministerium kommt eine klare Aussage: "Ja, das kann das BMV ausschließen."
Rätsel beim Auswärtigen Amt
Bemerkenswert ist die Reaktion des Auswärtigen Amtes. Aus dessen Antwort zur Aufbewahrung von Unterlagen darf nicht zitiert werden ("unter 3 – Hintergrund").
Dabei gäbe es dort einiges zu erklären: Warum existiert zu Treffen mit Gazprom und Nord Stream 2 AG nur ein einziger Vermerk – während das Wirtschaftsministerium, das ebenfalls Gespräche mit beiden Unternehmen führte, 65 Seiten veraktet und auf Antrag von abgeordnetenwatch herausgegeben hat?
Im Gerichtsverfahren mit abgeordnetenwatch hatte das Auswärtige Amt dafür folgende Erklärung: Vorbereitende Unterlagen wie Sprechpunkte oder Sachstände würden häufig “nach den Gesprächen vernichtet”, da sie als nicht aktenrelevant gelten.
Gerichtstermin abgesagt
Warum zur selben Thematik im Wirtschaftsministerium 65 Seiten als aktenrelevant galten, im Außenministerium jedoch nur ein einziger Vermerk, wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Auch nicht durch die Mitarbeiter:innen des Auswärtigen Amts, die eigentlich vor Gericht aussagen sollten.
Weil das Ministerium plötzlich doch noch den geheimen Gesprächsvermerk herbeizauberte, sah das Gericht offenbar keinen weiteren Klärungsbedarf. Es empfahl eine außergerichtliche Einigung, der Termin wurde kurzfristig gestrichen.
Die eigentliche Frage aber bleibt: Wie viele “Giftschränke” stehen in den Ministerien und im Kanzleramt – und was liegt darin verborgen?